Rüdiger und Martina Spiegel im Feld

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An Ort und Ställe

Zurückblicken, aber nach vorne gehen

Eine nachhaltige Art der Landbewirtschaftung erfolgt in Kreisläufen und hat dabei immer das große Ganze im Blick. Doch wie kann sie auch wirtschaftlich und damit zukunftsfähig sein? Wie können Landwirt:innen eine Balance finden zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung? Aber auch zwischen Selbstausbeutung und Selbstfürsorge? Ein Besuch auf dem Talhof in Heidenheim, dem drittältesten Demeterhof der Welt.

Hinter der Stadtgrenze von Heidenheim, im sanften, schattigen Ugental am Rande der Schwäbischen Alb, liegt der Talhof, der heute aus einer Handvoll Gebäuden besteht. Seine saftig grünen Flächen füllen das schmale Tal, das an Waldstücke und Wacholderheiden grenzt. Der Talhof ist einer der letzten seiner Art: Die meisten kleinen, familiär geführten Bauernhöfe, die es vor rund hundert Jahren gab, existieren längst nicht mehr. DER TRAUM VOM HOF Heute wird der drittälteste Demeterhof von Martina (56) und Rüdiger Spiegel (57) bewirtschaftet. Die beiden führen die Milchviehwirtschaft fort, die es dort seit jeher gab. In den 1980er-Jahren war Rüdiger hier der letzte Lehrling bei Friedrich Sattler, der den Talhof fast 40 Jahre lang als Hofverwalter geprägt hat. Danach brach Rüdiger nach Nürtingen auf, wo er Landwirtschaft studierte – und auf einem „Ökotreffen“ Martina kennenlernte. Die hatte nach ihrem Studium der Haushalts- und Ernährungswissenschaften gerade ihre Lehre im Bereich „Ländliche Hauswirtschaft“ begonnen.

Rüdiger Spiegel füttert die Kühe auf der Weide
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Beide waren „Lehrerkinder“ ohne eigenen Hof. Sie entschieden sich bewusst für die Landwirtschaft – und hatten beide den Wunsch, auf einem Demeterhof zu leben und zu arbeiten. „Sonst wäre das auch nichts mit uns geworden“, meint Rüdiger und lacht. Er war schon als Kind fast täglich in dem benachbarten Demeterbetrieb und von den Kühen und der Feldarbeit begeistert. Nach mehreren Stationen in Hofgemeinschaften und Betrieben am Bodensee und im Schwarzwald ergriff das Paar – beide dann Mitte vierzig und Eltern dreier Kinder im Teenageralter – die Chance, nochmals etwas Eigenes zu starten. 2014 erfuhren sie, dass Pächter für den Talhof gesucht wurden. „Damals war Rüdiger raus aus der Landwirtschaft und arbeitete als Molkereifachmann in einem schnell wachsenden Käserei-Betrieb. Uns wurde klar: Wir hatten den Traum vom eigenen Hof auf unserem gemeinsamen Weg als Familie zurückgelassen. Es war also ein ‚Jetzt oder nie!‘-Moment“, berichtet Martina von der aufregenden Entscheidung im Schwarzwald.

DER GROSSE SCHRITT

Wenig später schon kam die Familie mit einem Umzugslastwagen im Ugental an. Alle mussten anpacken, erzählt sie. „Die Kinder mussten in der neuen Schule zurechtkommen und neue Freunde finden. Und wir Eltern hatten nicht einmal Zeit, Kisten auszupacken, denn es gab so viel zu tun!“ Ein Kraftakt. Die Tiere, die Landwirtschaft, die Käserei, die neu aufgebaut und vergrößert wurde (Rüdigers Arbeitsgebiet). Das Hofcafé, der Hofladen, der Wochenmarkt, die Holzofenbäckerei und die Finanzen (von Martina betreut). „Die Menge an nie enden wollenden Aufgaben hat uns erdrückt. Und der Traum vom eigenen Hof hat sich bald nicht mehr gut angefühlt“, blickt Martina zurück. Die nächsten Jahre waren schwierig für das Paar. „Klar, ein Hof bedeutet viel Arbeit. Immer. Doch wenn die Arbeitsbelastung dauerhaft zu hoch ist, dann funktioniert es nicht“, meint Rüdiger. „Man darf sich als Mensch und als Paar nicht aus den Augen verlieren, auch wenn der Betrieb einen ständig fordert. Nicht nur Tiere und Pflanzen brauchen unsere Sorge und Aufmerksamkeit, sondern eben auch Beziehungen.“ Deswegen läuft heute einiges anders auf dem Talhof. Zwar treffen die beiden nach wie vor alle Entscheidungen selbst und leiten die mittlerweile zwölf Mitarbeiter:innen an. Doch einige Bereiche haben sie abgegeben: Das an Wochenenden bei den Heidenheimer:innen sehr beliebte Café übernahm eine Pächterin, und statt einem Hofladen gibt es jetzt Verkaufsautomaten, was sehr gut angenommen wird. Etwa einen Milchautomaten mit pasteurisierter Heumilch sowie Rohmilch und verschiedene, von Rüdiger hergestellte Heumilchprodukte wie Joghurts, Quark, diverse Frisch-, Weich- und Hartkäsesorten, aber auch Rauchfleisch und andere Fleisch- und Wurstprodukte von eigenen Rindern.

Die kargen Flächen des Talhofs sind nicht optimal als Äcker für die Nahrungsmittelproduktion für Menschen nutzbar. Die Kühe und Rinder können verwerten, was hier wächst. Über den ‚Umweg‘ Milch und Fleisch ernähren sie den Menschen dennoch.

Rüdiger Spiegel, Demeter-Landwirt

Martina Spiegel Portrait draußen zwischen Pflanzen
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RESPEKT FÜR DEN BODEN, DIE TIERE, DIE NATUR

Dass auf den Flächen, die zum Talhof gehören und seit 95 Jahren biodynamisch bewirtschaftet werden, noch nie Glyphosat, andere Pestizide oder Kunstdünger ausgebracht wurden, empfinden Martina und Rüdiger als Geschenk – und als große Verantwortung. „Es ist unsere Aufgabe, zu bewahren, was in unseren Händen liegt: den Boden, die Tiere, die Natur“, erklärt Martina. „Wir begegnen den uns anvertrauten Tieren mit Respekt und ermöglichen ihnen eine art- und wesensgemäße Haltung für ein würdevolles Leben“, ergänzt Rüdiger.

 „Demeter-Haltung heißt auch, dass unsere 26 Kühe samt Nachzucht selbstverständlich ihre Hörner behalten. Die sind wichtige Sinnes- und Kommunikationsorgane und haben Einfluss auf den Kräftehaushalt und die Verdauungsleistung.“ Die Tiere sind von Frühjahr bis Herbst täglich auf der Weide und werden im Winter im großzügigen hellen Offenstall mit Heu gefüttert. Die Kälber werden von Müttern und Ammen aufgezogen – „Sie trinken also auch die wertvolle DemeterMilch!“ Dafür sind sie laut Rüdiger gesund und wachsen gut. „Es ist schön, zu sehen, wie sie von ihren Müttern abgeschleckt werden!“ Das finden auch die zahlreichen Gäste, die den Talhof besuchen. Von den Verbraucher:innen wünscht sich Rüdiger, dass sie Milch und Fleisch noch mehr zusammendenken: „Damit die Kuh Milch gibt, muss sie ein Kalb gebären. Und die männlichen Kälber geben später natürlich keine Milch.“ Aktuell ist die Nachfrage nach Milchprodukten und Fleisch nicht ausgeglichen. „Das Fleckvieh ist eine Zweinutzungsrasse für Milch und Fleisch. Wer Milch konsumiert, sollte auch Fleisch essen“, so der Landwirt. Die Bedeutung der Kühe geht weit über die reine Milch- und Fleischproduktion hinaus: Sie erhalten die Kulturlandschaft im Ugental und sind keinesfalls Nahrungskonkurrenten für den Menschen, denn auf den kargen Flächen kann nichts für die menschliche Ernährung angebaut werden. „Die Kühe sind zentral in unserem Hoforganismus – auch wegen ihres wertvollen Mists, der den Boden fruchtbar macht und die Artenvielfalt stärkt. Dieses Wirtschaften in Kreisläufen hat Rudolf Steiner im Landwirtschaftlichen Kurs bereits angeregt“, so Rüdiger. „Zum Beispiel, dass das Gras durch den Kuhmagen geht und dann wieder als Dünger auf die Felder kommt.“

Wir wollen bewahren, was in unseren Händen liegt. Vor dieser Aufgabe habe ich Respekt.

Martina Spiegel, Demeter-Landwirtin

DIE WURZELN DES BIODYNAMISCHEN …

Früher, als ihnen mehr Zeit dazu blieb, haben die beiden viel über den „Landwirtschaftlichen Kurs“ philosophiert, mit dem Rudolph Steiner vor 100 Jahren die biodynamische Wirtschaftsweise anstieß. „Manchmal haben wir stundenlang einen einzigen Satz interpretiert“, erinnert sich Martina. „Damals haben wir auch Steiners Aufforderung zu forschen umgesetzt – und in der Praxis selbst viel ausprobiert, zum Beispiel beim Anbau von Pflanzen.“ Für eine solch tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Wurzeln der biodynamischen Landwirtschaft bleibt heute, im Arbeitsalltag, kaum Zeit. „Außer in der Präparatearbeit. Ich bin fest überzeugt, dass die Beschäftigung mit den Präparaten und damit die genaue Beobachtung des Hofs die Beziehungen zu Boden und Tieren sowie den ganzen Kreislauf fördert“, sagt Rüdiger. Demeter verortet er seit jeher im Spannungsfeld zwischen strengen Regeln, die eingehalten werden müssen, und der Freiheit zu forschen. Gerade heute weist für ihn dieser Forschungstrieb der Demeter-Gemeinschaft in die Zukunft: „Für die gegenwärtigen Herausforderungen brauchen wir den Mut, neue Wege zu gehen – aber weiterhin ohne Glyphosat, Kunstdünger und Gentechnik. Das Denken in Kreisläufen ist nach wie vor zukunftsweisend, wir brauchen nicht immer hochtechnologische, sondern intelligente Lösungen.“ 

… IDEEN FÜR DIE ZUKUNFT NÄHREND

Eine solche Neuerung hat er gerade selbst eingeführt, um der schwierigen klimatischen Lage seines Hofs zu begegnen. Zum einen sorgt die Kaltluftschneise vor allem nachts dafür, dass hier die der angrenzenden Stadt liegen, zum anderen lässt die Tallage nur wenige Stunden Sonne auf die Wiesen scheinen. Dadurch wächst alles etwas verzögert. Dazu kommt, dass der Boden karg ist und schnell austrocknet. Schon in den vergangenen Jahrhunderten hatte der Talhof mit seinem Mikroklima zu kämpfen. „Es wird zwar im kalten und schattigen Ugental wärmer durch den Klimawandel“, sagt Rüdiger, „doch dafür leider auch trockener.“ Weil es weniger regnet, kommt es immer wieder vor, dass das Futter für die Tiere seltener gemäht werden kann. Die Heu- und Strohernte reicht dann nicht mehr aus, um die Tiere im Winter mit eigenem Futter zu versorgen. Deshalb baut Rüdiger nun seit Kurzem auch Sorghum mit Kleegras als Untersaat an. Die auch „Sudangras“ genannte Futterhirse ist widerstandsfähig gegen Trockenheit. Sorghum kann durch seine tiefen Wurzeln und die effiziente Wassernutzung gut gedeihen und bietet eine ausgewogene Nährstoffzusammensetzung für Rinder, es enthält Energie und Protein. „Meine Tiere mussten sich erst etwas daran gewöhnen, fressen es aber inzwischen gern.“ Zukunftsängste haben die beiden nicht – weder für sich als Familie noch für den Talhof. Sie sind überzeugt: Auch wenn es den Hof schon so lange gibt, bleibt hier noch viel Raum für Neues. Mit dem Verein „Talhof erleben“ wird der Hof immer mehr zum kulturellen und sozialen Treffpunkt– mit Veranstaltungen und Workshops, Möglichkeiten zum Mitgärtnern. Einen Verlag samt Antiquariat, Künstler, Imker, sogar einen Waldkindergarten gibt es hier. Gerade der Bereich Bauernhofpädagogik könne in Zukunft noch eine viel größere Rolle spielen, so Rüdiger. „Größer werden kann der Talhof hingegen nicht“, sagt Martina. „Die Flächen reichen gerade für die Tiere, die es heute hier gibt. Und aufgrund der Tallage und der nahen Stadt können auch keine dazugepachtet werden. Doch wachsen kann man immer – auch nach innen.“ 

Der Talhof in Heidenheim wird vermutlich im 14. Jahrhundert gegründet. 1928 erwirbt ihn die Familie Voith, die Gründer der bekannten Voith-Werke in Heidenheim, sie nutzt ihn als landwirtschaftlichen Betrieb. Bereits 1929 wird er biodynamisch nach Demeter-Regeln bewirtschaftet. Durch einen Großbrand im Jahr 1998 wird ein Teil des Hofes zerstört, der Fortbestand des Talhofs ist mehr als ungewiss. 2002 übernimmt die Voith’sche Stiftung den Hof, investiert in neue Gebäude und bewahrt ihn als kulturelles Erbe – und verpachtet ihn heute an das Ehepaar Spiegel. Besucher:innen können sich an den Verkaufsautomaten mit Milch und Milchprodukten wie Joghurt, vielerlei Käsesorten und Quark sowie Wurst- und Fleischerzeugnissen vom Hof versorgen.

Rüdiger bietet zudem regelmäßig Käserei-Kurse in seiner „Hofkäseschule Talhof“ an, der nächste findet am Samstag, 15. Februar 2025, um 14 Uhr statt: Anmeldung unter Tel. 07321-42826. www.talhof-hdh.de 

Heute ist der Talhof gleichermaßen Wohnraum und Veranstaltungsort. Der Verein „Talhof erleben“ veranstaltet kulturelle, soziale und pädagogische Projekte und bietet auch Hofführungen an. www.talhof-erleben.de

Cover : „Die Talhof-Chronik“ von Anna Pezold, Tobias Birken und Matthias Georgi
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Amthor Verlag

Buchtipp

„Die Talhof-Chronik“ von Anna Pezold, Tobias Birken und Matthias Georgi (Amthor Verlag, 2019, 128 Seiten, Preis 19,80 €) erzählt die bewegte Geschichte des Talhofs entlang der beiden Einflüsse, die ihn in den letzten hundert Jahren prägten: der Familie Voith und Rudolf Steiners Landwirtschaftlichem Kurs.

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