Stell dir vor

Wenn wir wieder spüren

Eine Gedankenreise in einen Alltag, in dem wir das Spüren wieder erlernen. Und dabei das Sehen erst einmal vernachlässigen.

Wenn wir wieder spüren
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Inga Israel

Seit die Menschen nicht mehr sahen, fühlten sie. Und seit sie fühlten, war die Welt eine andere geworden. Eine Augenbinde war nun vor jedem Gang vor die Tür Pflicht. Die Idee war im Weltethikrat während der letzten großen Pandemie aufgekommen. Da sich die Menschen eines Virus wegen nicht mehr hatten berühren dürfen und sich unter Masken hatten verstecken müssen, war die Welt erkaltet. Die Menschen waren in der Krise nicht näher zusammengerückt, sondern weiter auseinandergetrieben worden. Dem Weltethikrat zufolge lag der Grund klar auf der Hand: Die Menschen waren der falschen Sinne beraubt worden: anfassen, riechen, schmecken, spüren – das war für die Rettung der Welt elementar. Sehenden Auges hingegen konnte man auch in den Untergang schreiten.

Also war die Augenbinde für alle Weltbürger*innen über sechs Jahren vorübergehend verpflichtend. Die Menschen bewegten sich seither langsamer fort, da sie nach Orientierung tasten mussten. Dafür richteten sie aber auch weniger Schaden an. Statt des üblichen rücksichtslosen Auto-Wahnsinns in den Städten: lebendiges, aber achtsames Miteinander. Man ging zu Fuß oder tastete sich in die kaum schneller als Rolltreppen laufenden Nahverkehrsbahnen. Wirtschaftslenker*innen entschieden nicht mehr nach dem schnellen Blick, sondern nach ausgiebigem Hinspüren. Eine blinde Begehung der Orte, an denen investiert werden sollte, war verpflichtend. Auf einem Gelände, über das ein warmer Frühlingswind strich, auf dem die Vögel bezaubernd sangen und zirpten, war ein neues Kraftwerk, eine Motorenhalle schlicht nicht zu errichten. Und wozu auch? Die Menschen benötigten keine Motoren mehr. Das zeitweilige Abdecken des einen Sinns hatte die anderen umso stärker freigelegt: Die Menschen rochen den Wind und liefen am liebsten barfuß durch den Wald, gingen nackt schwimmen und genossen, wie die Wasserperlen auf ihrer Haut in der Sonne verdunsteten.

Internetbestellungen, das übliche Lieferchaos verschiedenster Dienste – alles perdu! Die fünf Billionen Onlineartikel waren ja ohnehin für niemanden mehr zu sehen, seit die Augenbinde auch für jede Kaufhandlung eingeführt worden war. Ab sofort wogen, maßen und fühlten die Menschen wieder auf dem Wochenmarkt. Nichts kam schon zerbrochen geliefert! Nichts musste nach Tagen in die Retoure! Nichts stellte die Wohnungen voll, da die Menschen nur kauften, was sie brauchten. Markenkleidung, die optische Selbstoptimierung, das inszenierte Aussehen überhaupt: spielten keine Rolle mehr! Wo sich die Menschen vorher beäugt hatten oder bewundert, wo manche geschillert hatten und manche verblassten, wo der erste Blick gleich eine Wertung nach sich gezogen hatte, gab es plötzlich ein neues „Sehen“. Menschen, die sich nie miteinander unterhalten hatten, stießen so aufeinander, tauschten sich aus, hörten sich zu, sangen sich vor, hielten sich an der Hand. Spürten hin. Und als die Zeit ganz bald schon gekommen war, die Augenbinde wieder abzunehmen, da sahen die Menschen sich selbst. Und einander. Diesmal aber wirklich.

„Stell dir vor“ widmet sich einer Utopie zum jeweiligen Heftthema. Einem Gedankenanstoß, der zugespitzt durchspielt, „was wäre, wenn …?“