Stell dir vor

Sharing Economy

… ist in einer fiktiven Zukunft das, was die Gesellschaft zusammenhält. Eine Gedankenreise in eine Postwachstums-Utopie

Bunte Formen wie Auge, Lippen, Herzen
Bildrechte
Olga Pink/shutterstock.com

Jurislav sah aus dem Fenster. Es regnete. Doch kein Problem, das Share Center lag nah. Jede Bürgerin und jeder Bürger hatte das verbriefte Recht, in zehn Minuten zu Fuß zum nächsten Center zu gelangen. Er griff sich den Regen­schirm und lief los. Unten auf der Straße grüßte er einen Rikschafahrer, der Kisten mit Regiogemüse auf der letzten Meile zu den Kunden brachte. Im Share Center schenkte ihm eine betagte Witwe einen Tee aus. Er plauderte mit ihr, fragte nach, ob eine der Schleifmaschinen zur Verfügung stand. Vor einigen Jahren hätte Jurislav das noch auf einer App herausfinden können. Doch nach Peak Oil waren sie längst bei Peak Everything angelangt: Die seltenen Erden aus den ­Kobaltminen des Kongo waren versiegt. Das Internet der Dinge seither nur noch ein Treppenwitz der Geschichte. Seither ging man wieder zu Fuß oder nahm das Rad, wenn man etwas wissen wollte. Die alte Frau beriet ihn fachkundig, gab die Erfahrungswerte bisheriger Bürgerinnen und Bürger kund und klärte ihn über Körnungsgrade und Schleifstaubprobleme auf. Er trug sich links in die Liste ein („nehmen“) und überlegte, was er in die rechte Spalte schreiben sollte („geben“). Fahrrad reparieren? Kinderbetreuung? Nein, das stand dort schon allenthalben. Er entschied sich für etwas Neues: „Geschichtsstunde“. Noch war sein Vater am Leben. Und was der erzählte aus den Jahren nach der Jahrtausendwende, war wirklich zum Haareraufen. Gut möglich, dass sich die jüngere Generation dafür interessierte. Die Witwe las, was er eingetragen hatte, und lächelte wissend. Dann machte sich Jurislav auf den Rückweg. Der Regen war stärker geworden. Doch sogleich kam eine freie Rikscha um die Ecke, die ihn trocken nach Hause brachte. Seelenruhig schliff er seinen Esstisch ab und ölte ihn mit Leinöl ein. War doch wirklich zu schade zum Wegschmeißen, das alte Stück!

Aus der Küche dufteten die drei Obstkuchen aus alten Apfelsorten, Quitten und selbst gezogenem Ingwer herüber. Er beugte sich vor das Ofentürchen, wiegte den Kopf. Nein, fünf Minuten noch. Er setzte sich an den Esstisch, der wie neu aussah, und schrieb eine Eintausch-Liste. Möhren. Zwiebeln. Eier. Mehl. Speck. Als die Kuchen ausgekühlt waren, trug er alle drei in einem Stapelkorb in den Hof. Der Regen hatte endlich nachgelassen. Anni, die sich als Studentin etwas hinzuverdiente, indem sie die Leihräder im Hof fahrtauglich hielt, fuhr ihm eines mit Lastensattel vor und half ihm, die Kuchen darauf zu bugsieren. Er kramte nach einer Münze. Fand keine. Hatte partout keine Ahnung, wann und wo er zuletzt eine Münze oder einen Schein in der Hand gehalten hatte. Schließlich zog er seinen Tauschbeutel hervor und schenkte Anni eine volle halbe Stunde Tauschgutschein. Sie errötete über dem großzügigen Trinkgeld und fuhr ihm das Rad auch noch auf den Bürgersteig vor.

Im Eintauschladen überreichte er Carla die drei Kuchen, die ihren Duft lobte und sie tauschwirksam auf dem Tausch­tresen platzierte. Als Jurislav alle Zutaten für das Abendessen zusammengesucht hatte, tadelte Carla ihn zum Spaß: Seine drei Kuchen seien doch viel mehr wert als das bisschen Gemüse und Eier und Speck! Großzügig legte sie noch einen vollen, duftenden Laib Vollkornbrot zu seinen Eintauschsachen dazu. Zu Hause machte er sich sogleich an die Zubereitung. Dienstags kochte Jurislav für alle Mietparteien im Haus. Was für ein Wahn das vielfache Einzelkochen in den Mietshäusern zur Zeit seines Vaters gewesen war! Wie viele Herde da angeworfen wurden, wo es doch einer tat.

Henrik war wie immer der Erste. Hungrig schlich er mit seiner Metalldose in Jurislavs Flur. Jurislav packte ihm seinen Anteil ein und wünschte ihm einen guten Appetit. Henrik aß nun einmal nicht gern in Gesellschaft. Die anderen aber, Myriel und Jasminde, Wotan und Zelal, Marja und Friedlinde, kamen in einem geschlossenen, lachenden Pulk und gruppierten sich um den Esstisch, lobten dessen neue Ölung wie den Duft der Tarte, stellten ihre mitgebrachten Biere dazu, die sie selber brauten, ihre Essige, die sie selber vergärten, Gläser von Tomatensuppen, die sie selber einkochten. Und dann, weil alle so glücklich beieinandersaßen, spendierte Jurislav noch ein Fläschchen selbst getauschten Schnaps aus den Stadtpark-Mirabellen, und der Abendbrottausch wurde endgültig zum Nachbarschaftsplausch.

Auf unserer „Stell dir vor …“-Seite träumen wir in den nächsten Ausgaben von Utopien, die möglich sind.

Dieser Artikel stammt aus dem Demeter Journal