Leidenschaftliche Züchter*innen

Kulturpflanzen mit Geschichte

Am Dottenfelderhof nahe Frankfurt am Main entwickeln und erhalten biodynamische Pflanzenzüchter*innen Kultursorten und kämpfen für Unabhängigkeit von der globalen Saatgutindustrie. Ein Besuch bei der Gemüsezüchterin Johanna Fellner und dem Mais- und Getreidezüchter Carl Vollenweider.

Von Nicolas Weisensel

Es ist ein sonniger Tag, Schwalben zwitschern und fliegen im frisch­grünen Hausgarten des Dottenfelderhofs bei Bad Vilbel zwischen den alten Klostermauern umher. Schon immer wurde hier Gemüse angebaut, bis heute. Gemüsezüchterin Johanna Fellner zieht eine Möhre mit herabhängendem Laub aus dem Boden. „Oh nein!“ ruft sie, die Wühlmaus war wieder aktiv. Neben einer alten violetten Möhrensorte züchtet und erhält die 31-­Jährige hier in Zusammenarbeit mit Kultursaat e. V. auch orange Möhren, Romanesco, Buschbohnen sowie Weiß- und Rotkohl biodynamisch. Rotkohl ist ihre große Leidenschaft, das merkt man an dem Leuchten in ihren Augen, wenn sie davon spricht.

Faszination Kohl

Die ausgewachsenen Kohlpflanzen sind ein ungewöhnlicher Anblick, sie spreizen sich, ganz langgezogen, der Sonne entgegen, ihre Blüten leuchten knallgelb. Nur so bilden die Pflanzen ihre Samen aus. „Es hat mich schon immer beeindruckt, den Kohl blühen zu sehen“, sagt Johanna Fellner. „Ich verstehe unsere Kulturpflanzen besser, wenn ich mich mit den wilden Urformen beschäftige.“ Sie fas­ziniert, wie die Pflanzen über Jahrhunderte eine enge Gemeinschaft mit dem Menschen eingingen und beide bis heute gemeinsam wachsen – wenn man sie denn lässt.

Seltener Anblick: blühende Kohlpflanzen.

„Ich will Pflanzen, die wirklich Pflanzen sein können.“ Soll heißen: Sie entwickeln sich und wachsen selbstständig. Sie möchte die Integrität lebendiger Wesen ernst nehmen, diese achten und wertschätzen. „Pflanzen haben eine Geschichte, jedes Jahr prägt sich in sie ein.“ Beim Kohl ist ihr das besonders wichtig, denn hier gibt es fast nur noch ­CMS-Hybridsaatgut. Daraus entstehen ­Pflanzen, die selbst unfruchtbar sind, was zu einer genetischen Verarmung und Abhängigkeit von Saatgutkonzernen führt. Diese Entwicklung möchte Johanna Fellner mit ihren ökologisch gezüchteten, vielfältigen, nachbaufähigen Sorten durchbrechen. „Samen­fest heißt, dass man Pflanzen aussät, erntet und die Samen wieder aussähen kann. ­Da­durch ist man unabhängig.“

Samenfeste Sorten

Gentechnik und Hybridzüchtung sind für Johanna Fellner hingegen ein „Vergehen an der Pflanzenwelt“. Genau deshalb kämpft und arbeitet die Züchterin für den Erhalt und die Verbesserung der alten, samenfesten Kultursorten. „Die Pflanzenzüchtung muss ein gesamtgesellschaftliches Thema werden“, sagt sie. Denn aktuell unterstützt fast jeder Kauf von Lebensmitteln konventionelle, industrielle Saatgutriesen.

Ortswechsel: Ein beschaulicher Acker, knapp einen Kilometer entfernt. Carl Vollenweider, 32, zieht mit prüfendem Blick ein rotes Maiskorn aus der Erde. Es sollte etwa fünf Zentimeter tief im Boden stecken. Die intensive Farbe hat das Korn durch den hohen Anteil an Anthocyanen, den rot-­violetten Pflanzenfarbstoffen.

Mais ist Carl Vollenweiders große Passion: „Ich verstehe gar nicht, warum die Deutschen so wenig Maisprodukte essen. In der Schweiz lieben wir Polenta.“ Wie der studierte Mathematiker und promovierte Physiker zur ökologischen Pflanzenzüchtung kam, ist eine ganz besondere Geschichte. „Mich hat Vandana Shiva sehr beeindruckt und ihre Botschaft, dass viele unserer Probleme damit zu tun haben, wie wir Landwirtschaft betreiben und welches Saatgut wir verwenden.“ Nur zwei Wochen nach seiner Doktorprüfung ist er auf dem Weg zu ihr nach Nordindien. Die indische Quantenphysikerin und Ökoaktivistin betreibt dort einen Hof, wo sie alte Kultursorten bewahrt, vermehrt und wieder in Umlauf bringt. Ihr Ziel: lokale Kleinbauern stärken und unabhängiger machen. „Dort habe ich be­griffen, dass ökologische Pflanzenzüchtung eine Hilfe zur Lösung unserer globalen Probleme ist“, so der Züchter.

Ein Forschungsschwerpunkt von Carl Vollenweider ist die Populationszüchtung bei Mais und Weizen: „Populationen sind heterogene, vielfältig zusammengesetzte Pflanzenbestände.“ Dabei werden nicht mehr nur gleiche Sorten angebaut, sondern eine ganze Vielfalt an verschiedenen Pflanzen. Der Vorteil: Das erhöht die Biodiversität auf dem Acker, die Pflanzen können sich an Standort- und Klimabedingungen anpassen und eine höhere Widerstands­fähigkeit gegen bestimmte Krankheiten entwickeln. „Mit Populationen kann eine breite Vielfalt erzeugt und erhalten werden, auf die wir für die kommenden Heraus­forderungen dringend angewiesen sind.“

Mehr Geld für die ­Ökozüchtung

„Die Ökozüchtung braucht ein eigenes Finanzierungsmodell, der ganze Sektor muss sich an der Züchtung beteiligen“, sagt Carl Vollenweider. „Nur so kann die Ökozüchtung eine breite Sortenvielfalt erhalten und bereitstellen. Das hilft nicht nur der Ökolandwirtschaft, sondern der gesamten ­Gesellschaft und dem Planeten.“