Was gibt es Lebendigeres als einen Samen?

Über Verbindendes zwischen der biodynamischen Saatgut-Bewegung und der Erdfest-Initiative sprachen Philosoph Andreas Weber und Petra Boie, Geschäftsführerin der Bingenheimer Saatgut AG.

Moderation: Susanne Kiebler

Herr Weber, Sie haben gemeinsam mit Hildegart Kurt die Erdfest-Initiative ins Leben gerufen. Warum brauchen wir ein Erdfest?

Andreas Weber: Wir schlagen vor, einen neuen Feiertag in unseren Kalender aufzunehmen. Diesen begehen wir auf eine Weise, die es uns ermöglicht, die Gegenseitigkeit und die Lebendigkeit in unserem Leben zu feiern – eine Haltung, die ein Gegengewicht zu dem bildet, was das Verhältnis zur Erde und zur Natur in unserer Gesellschaft oft kennzeichnet: nämlich, dass wir sie wie Sachen behandeln und als Dinge nutzen. Dieser setzen wir die Idee entgegen, dass wir Teilhabende sind – in einem Netzwerk von Beziehungen, die von Geschenken und Gaben leben.

Petra Boie: Ist das generationsübergreifend gedacht?

Andreas Weber: Ja, auf jeden Fall: Meine Beziehungen reichen sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit, ökologische Kreisläufe sind ja immer auch in die Zukunft gerichtet, darauf, dass sich die Fruchtbarkeit stets erneuert.

Andreas Weber

Andreas Weber, geboren 1967, ist Biologe und Philosoph. Er promovierte über „Natur als Bedeutung“. Seit 1994 schreibt er u. a. für GEO, Merian, ZEIT, Frankfurter Allgemeine Zeitung und National Geographic mit Preisen ausgezeichnete Reportagen und Essays. In seinen bislang 12 Büchern versucht Weber die Wirklichkeit als schöpferischen, seelischen Prozess zu erfassen. Er lebt als Schriftsteller, Journalist und Hochschuldozent in Berlin und Italien.

Petra Boie

Petra Boie, geboren 1965, nach der Ausbildung zur Gemüsegärtnerin, einem Auslandsjahr und dem Studium der Agrarwissenschaft kam sie für ein Agrarreferendariat nach Hessen. Sie ist seit 1999 in Bingenheim tätig und seit 2001 im zweiköpfigen Vorstand der AG für den Bereich Vertrieb zuständig. Sie lebt in der Nähe von Bingenheim, am Rande des Vogelsberges – Mitteleuropas größtem Vulkangebiet.

Gibt es da eine Gemeinsamkeit mit der biodynamischen Pflanzenzüchtung?

Petra Boie: Sicher, das ist wie bei der biodynamischen Züchtung: Gemüse- oder Getreidesorten sind ein Kulturgut, ein Geschenk aus der Vergangenheit. Viele Sorten haben eine 2 000 Jahre lange Geschichte. Da stellen wir die Frage: Wie können wir sie bewahren, aber auch weiterentwickeln, damit wir sie an die Menschen weiterschenken können, die in der Zukunft leben?

Biodynamische Züchtung

Die Züchtung überlassen wir nicht Großkonzernen. Wir entwickeln in Bauernhand Gemüsesorten, die schmecken. Als erster Bio-Verband hat Demeter Richtlinien für Pflanzenzüchtung entwickelt und zertifiziert biodynamisch gezüchtete Gemüse- und Getreidesorten. Bis jedoch alle Demeter-Möhren in den Regalen aus biodynamischem Saatgut von Sorten aus biodynamischer Züchtung stammen, ist es noch ein weiter Weg.

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Hat das Erdfest dann einen ähnlichen Ansatz wie das Erntedankfest?

Andreas Weber: Die Haltung dahinter ist eine etwas andere: Ja, wir feiern und danken dafür, was uns die Erde gibt, doch beim Erdfest heißt dieses Danken immer auch, dass ich etwas zurückgebe, etwas zurückschenke – also dass ich die Fruchtbarkeit der schöpferischen Biosphäre durch mein eigenes Verhalten stärke. Das kann heißen, ein Stück Natur zu ehren, indem ich sein ganz selbstbestimmtes wildes Gedeihen fördere. Oder aber dass ich mich demütig zur Erde beuge.

Erdfest-Initiative

Lebendigkeit gemeinsam feiern – vom 21. bis 23. Juni 2019 findet zum zweiten Mal deutschlandweit das vom Bundesamt für Naturschutz geförderte Erdfest statt. Personen und Initiativen aus verschiedenen Bereichen – etwa der nachhaltigen Landwirtschaft, Kunst, Naturschutz und Umweltpädagogik – laden mit ihren Angeboten Mitmachende aller Altersgruppen dazu ein, Natur sinnlich zu erfahren, sich von ihrer Schöpferkraft inspirieren zu lassen und damit auch die eigene, menschliche Natur neu zu entdecken. Begehen auch Sie das Erdfest – mit Ihren eigenen Ideen, so wie es für Sie vor Ort passt!

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Petra Boie: Das ist ja das Urbild der biodynamischen Züchtung: Sie beruht auf Gegenseitigkeit, im Geben und Nehmen – und schafft dabei Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft.

Andreas Weber: Das genau ist auch das Urbild des ökologischen Tiefenverhältnisses, das allen frühen Kulturen gemein ist. Sie teilen ein Bild der Gegenseitigkeit, durch deren Erneuerung die Beteiligten Fruchtbarkeit erschaffen. Dazu gehört, auf eine weise Art die Gaben der Natur zu nehmen, aber auch dieses Geschenk, das man von der Natur erhalten hat, in verwandelter Form an diese zurückzuschenken.

Diese Gegenseitigkeit soll also beim Erdfest gefeiert werden. Wie sieht so ein Erdfest aus?

Andreas Weber: Das dürfen die Teilnehmenden – die Initiativträger und -trägerinnen – selbst entscheiden. Die Idee dahinter ist, an jenen Tagen etwas zu tun, was im Geist dieser Philosophie der Gegenseitigkeit steht. Alles Weitere bleibt jedem, der Lust hat mitzufeiern, selbst überlassen. Es ist nichts Vorgegebenes, kein Event. Es geht beim Feiern des Erdfestes darum, Teil von etwas Größerem zu sein. Die Erdfeste haben keine zentrale Leitung und nicht nur einen einzigen Ort. Jedes Erdfest entsteht im eigenen Kontext und speist sich aus den Ideen und der Umgebung eines jeden, der dabei mitmacht.

Das heißt, ich kann das Erdfest also auch alleine feiern?

Andreas Weber: Ja, auf jeden Fall! Erdfest kann bedeuten, gemeinsam oder alleine einen Ort draußen aufzusuchen, mit dem man sich verbindet: eine Wiese, einen Baum, einen Bach. Und dann einfach innezuhalten und wahrzunehmen, was mit einem selbst, was miteinander passiert. Der zweite wichtige Grundgedanke ist, dass das Erdfest eine Wiederbelebung von Allmende darstellt. Für mich haben alle Lebenszusammenhänge den Charakter von Allmenden: Sie sind ein Geben und Nehmen, das Gemeinsamkeit hervorbringt. Auch ganze Ökosysteme sind Allmenden. In einer Allmende nutzt man nicht eine Ressource, sondern man bringt gemeinsam etwas hervor, indem alle etwas beitragen und alle etwas abbekommen. Das ist eine sehr alte Wirtschafts- und Sozialform. Ihre Fruchtbarkeit entsteht durch diese Gegenseitigkeit, durch die Verbundenheit von allem mit allem. Fruchtbarkeit ist dann nicht nur etwas Materielles, sondern auch ein seelisches Geschehen. Schöpferische Existenz. Das versteht unsere Gesellschaft heute nicht mehr. Wir sehen meist nur Dinge, Objekte, deren Sinn darin besteht, dass sie verbraucht werden. Und das ist ein ganz anderer Zugang.

Demeter-Pflanzenzüchterinnen und -züchter verstehen Saatgut als Kulturgut – und damit auch als Allmende oder Gemeingut ...

Petra Boie: Ja, die biodynamische Züchtungsbewegung hat den Gemeingut-Gedanken von Anfang an mitgedacht. Vor mehr als 40 Jahren haben sich Demeter- Gärtnerinnen und -Gärtner zusammengetan und merkten „Wir brauchen unser eigenes Saatgut“, weil sie die Entwicklungen in der konventionellen Saatgutindustrie und deren Konzentrationsprozesse schon vorhergesehen haben. Dieser ganz einfache Gedanke trieb und treibt sie bis heute an, sich untereinander auszutauschen und sich in der Kunst der Saatgutvermehrung weiterzubilden. In den 90er-Jahren fragten sie sich: Woher kommt denn das Saatgut, das wir vermehren? Da war ihnen dann schnell klar: „Wir brauchen eine eigene Sortenentwicklung.“ So gründeten sie 1994 den Verein Kultursaat mit dem Ziel, Sorten zu züchten für die sich stetig entwickelnden Bedürfnisse der Menschen und die sich mit den Jahren ändernden Umweltbedingungen. Von vornherein war den Beteiligten klar: Der Umgang mit Saatgut und Sortenentwicklung muss gleichzeitig auch eine Frage des Wirtschaftslebens sein, das ebenso neu gedacht werden musste. Hier komme ich auf den Begriff des Gemeingutes zurück. Sorten sind Kulturgut – oder ein Gemeingut – und dies muss auch im Wirtschaftsleben Niederschlag finden. Deswegen wurden die beiden Bereiche der Saatgutvermehrung und der Züchtung aufgeteilt, wobei die Vermehrung näher in der Wirtschaft verortet ist – etwa in der Bingenheimer Saatgut AG. Die biodynamische Züchtung hingegen sollte unbedingt einen gemeinnützigen Träger haben, der als Wächter und Pfleger dieses Gemeingutes fungiert.

Andreas Weber: Ja, Allmende braucht Pflege, braucht Rechtsformen und Regeln. Allmende ist niemals etwas, bei dem sich jeder einfach nur bedienen kann. Sie ist nicht eine herrenlose Ressource, sondern eine Kultur, die davon lebt, dass sie das, was allen gehört, so verteilt, dass alle berücksichtigt werden – und dass alle beitragen müssen. Das Problem an unserem Wirtschaftssystem ist, dass es Gewinn aus der Zerstörung von Allmenden zieht. Es verwandelt das, was Allmende ist, in den Besitz einiger weniger.

„Wir handeln ausschließlich samenfeste Sorten. Sie können nachgebaut werden, wie es von Natur aus veranlagt ist. Insofern sind samenfeste Sorten das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft der Kulturpflanzenentwicklung und ein Sinnbild nachhaltigen Wirtschaftens.“Petra Boie

Diese Entwicklung gab es ja auch auf dem Saatgutmarkt.

Petra Boie: Patente auf Pflanzen und Tiere sind der vorläufige und brandaktuelle Endpunkt des Bedeutungswandels von Sorten: weg vom Kulturgut hin zum Wirtschaftsgut. Monsanto beziehungsweise inzwischen Bayer lässt grüßen! Saatgut aber ist mehr als gewöhnliches Betriebsmittel wie Kraftstoff oder Verpackungsmaterial. Es bildet den Ausgangspunkt jeder Ernährungskultur. Nach unserer Überzeugung darf es keinen privatwirtschaftlichen Besitz an Sorten und/oder DNA-Sequenzen geben. Ganz im Gegensatz zu der Bio-Patentierung legt der Verein Kultursaat Wert auf eine Behandlung der Sorten als erhaltenswürdiges und schutzbedürftiges kulturelles Gut der Menschheit.

Bingenheimer Saatgut Ag

  • beschäftigt 50 Mitarbeiter*innen,
  • hat 88 Gärtnereien als Partner, in denen das biodynamische und ökologische Saatgut vermehrt wird,
  • hat über 45 000 Kunden (Erwerbs- und Hobbygärtner*innen), die Saatgut aus Bingenheim beziehen und samenfeste Sorten anbauen.
  • Die Arbeit der Bingenheimer Saatgut AG wird von 119 Aktionären aus Öko-Landbau, -handel und -verarbeitung partnerschaftlich begleitet.
  • Sie ist ist Teil eines Netzwerks: Der gemeinnützige „Kultursaat e.V.“ pflegt mehr als 90 neu gezüchtete biodynamische Sorten und 19 Sorten in Erhaltungszucht; der „Initiativkreis für Gemüsesaatgut aus biodynamischem und ökologischem Anbau“ trifft sich regelmäßig zum Austausch in Bingenheim.

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Andreas Weber: Das Problem liegt darin, dass wenige mächtige Menschen und Konzerne sich Allmende-Bestandteile einverleiben, obwohl diese allen gehören und auch allen zur Verfügung stehen müssen. Inzwischen denke ich da etwas anders als vor zehn Jahren, als ich noch dachte: Wir Menschen sind einfach zu träge, um das System zu ändern und ins Handeln zu kommen. Heute glaube ich, dass der Hebel des Verbrauchers – übrigens auch ein Begriff, der die Gegenseitigkeit der Beziehungen außen vor lässt – zu kurz ist, um etwas ändern zu können. Ganz im Gegensatz zu denen der Konzerne, die wiederum durch ihre Lobbyarbeit politisch begünstigt werden.

Petra Boie: Es geht ja inzwischen schon so weit, dass diese definieren möchten, was Biozüchtung ist. Das müssen wir jedoch selbst aus der ökologischen Züchtung heraus tun. Die Diskussion um die CMS-Hybriden ist noch keine zehn Jahre her. Der Gesetzgeber erlaubt sie und sagt, dass diese durch Zellfusion hergestellten Pflanzen keine Gentechnik darstellen. Wir aber sagen: Doch, das ist ein Eingriff in das Erbgut – und solche Hybriden können wir nicht als Ausgangspunkt für den Ökolandbau nehmen! Die biodynamischen Züchterinnen und Züchter, die sich schon viel länger mit der Frage beschäftigen, was Ökozüchtung ist, fordern nachbaufähige Sorten und verlangen, dass der Züchtungsvorgang offengelegt wird. Zudem sollen die Sortenrechte bei einem gemeinnützigen Träger liegen. Und dann haben die biodynamischen Züchterinnen und Züchter auch noch einen besonderen Anspruch an die Lebensmittelqualität von neuen Sorten. Dabei lassen sie sich in der zehn- bis zwanzigjährigen Züchtungsgeschichte – etwa eines Brokkolis Calinaro oder einer Möhre Rodelika – von der Frage leiten: Was ernährt uns wirklich?

„Wir sind nicht nur Teil der Natur, sondern sie ist Teil von uns. Erdfest feiern heißt: dem Lebendigen Lebendigkeit zurückschenken – bewusst sein. Eine Antwort geben auf den Zustand der Welt.“Dr. Andreas Weber

Inwiefern?

Petra Boie: Es gibt diese indianische Weissagung: „Sie werden vor vollen Tellern verhungern“, weil wir in der westlichen Gesellschaft immer mehr Totes als Lebendiges essen würden. Diese Analogie sehe ich auch bei den heutigen Lebensmitteln, die nicht mehr genügend Formkräfte haben und uns oft nicht mehr wirklich ernähren können. So stellt sich die Frage bei Hybridzüchtungen: Können uns Pflanzen wirklich ernähren, die nicht mehr in der Lage sind, am Fortpflanzungskreislauf teilzunehmen? Das glauben wir nicht. Die Bingenheimer Saatgut AG handelt ausschließlich mit ökologischem Saat- und Pflanzgut von samenfesten Sorten. Diese sind in der Lage, fruchtbare Samen zu bilden, wie es von Natur aus veranlagt ist. Fruchtbarkeit meine ich in dem Sinne, dass die Sorten in der Lage sind, Sorteneigenschaften über die Generationen zu erhalten und weiterzugeben. Insofern sind samenfeste Sorten das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft der Kulturpflanzenentwicklung und ein Sinnbild nachhaltigen Wirtschaftens.

Andreas Weber: Das ist auch philosophisch eine interessante Frage: Kann eine Pflanze, die auf diese Weise unfruchtbar ist wie die Hybriden, unser Empfinden und unser Handeln „fruchtbar“ werden lassen? Wie kann eine unfruchtbare Karotte zu meiner Fruchtbarkeit beitragen? Wenn wir Gemüse nur als Nährstoffquelle im Sinne der Ressourcenausbeutung sehen, kann man sagen: Ja, selbstverständlich – die Möhre enthält schließlich eine gewisse Anzahl von Kalorien, weist einen bestimmten Protein- und Kohlehydrat-Gehalt auf. Aber wenn wir im wahrsten Sinne des Wortes „ökologisch“ denken – also das Leben und das Existieren als Kreislauf verstehen – ist die Frage berechtigt. Die Ur-Regeln eines Ökosystems, nämlich Fruchtbarkeit und Gegenseitigkeit, werden durch eine hybride Sorte verletzt. Eine Hybridsorte ist bloße Ware, kein Teilnehmer. So etwas haben menschliche Kulturen lange Zeit bewusst vermieden. Sie haben intuitiv gewusst, dass das nicht gut geht. Doch seit Adam Smith haben sie begonnen, das zu vergessen – und das Gegenteil zum Programm erhoben und diese Prinzipien als irrational und ineffizient verurteilt.

Ein Gedanke, wie wir ihn jetzt hier begonnen haben, ist übrigens ein gutes Beispiel für etwas, was zum Anlass für ein Erdfest werden könnte. Da kann man sich den Raum nehmen, ein Gefühl zu dieser Symbolik der Gegenseitigkeit und Fruchtbarkeit zu bekommen.

Petra Boie: Die Züchterinnen und Züchter sagen, sie sind „im Gespräch“ mit der Pflanze. Auch hier gibt es diese Gegenseitigkeit. Der Züchterblick ist jeweils etwas sehr Individuelles. Diese Auseinandersetzung und Kommunikation ist nötig, um zukunftsfähige Sorten zu entwickeln. Für diejenigen, die züchten, ist es auch selbst ein Entwicklungsweg.

Da haben wir wieder den Gegenseitigkeits-Gedanken!

Andreas Weber: Ja, und wir sind wieder mitten in einer Allmende, in einem Ökosystem. Die biodynamische Züchtung ist sozusagen der Flaschenhals, das Nadelöhr, durch das Fruchtbarkeit in der Biosphäre fortbesteht. Letztlich reden wir die ganze Zeit über Ökonomie. Wir wollen eine Wirtschaft, in der man als Handelnder Teilhaber ist und in der externe, konzentrierte Mächte nicht über das entscheiden, was uns ausmacht. Das Faszinierende ist doch, dass das, was ich esse, zu mir selbst wird. Und zwar ganz real. Das ist nicht nur eine Metapher. Heute lernen die Kinder in der Schule: Wenn ich etwas esse, dann ist das so, wie wenn man ein Auto betankt: Ich esse etwas, das wird verdaut und dann ausgeschieden. So wie Benzin das Auto antreibt und verbrannt wird. Das stimmt aber nicht: Wenn ich etwa diese Tomate esse, dann wird diese Tomate in einem hochkomplexen Vorgang Teil von mir selbst.

Petra Boie: Mehr noch – wir setzen uns mit der Nahrung, die wir zu uns nehmen, auseinander und entwickeln uns daran. Und für wirklich gute Lebensmittel brauchen wir eben gutes Saatgut. Das ist ja das Schöne: Hier wird aus etwas ganz Kleinem, einem Samen, etwas ganz Großes. Saatgut und Züchtung sind der Beginn der Agrarkultur, der Lebensmittel-Erzeugung überhaupt – und die Grundlage für das, was wir sind und wie wir leben.

Andreas Weber: Ja, gutes Saatgut ist lebendig und stiftet Lebendigkeit! Dazu kann ich nur Stevie Wonder zitieren, aus seinem großartigen Album „Journey Through The Secret Life Of Plants“: „A Seed’s A Star“ – ein Samen ist ein Stern!

Lesetipp:

Andreas Weber: „Enlivenment. Eine Kultur des Lebens“, Matthes & Seitz Berlin

In seinem Essay „Enlivenment“ schaut Andreas Weber mit frischem Blick auf das Zusammenspiel von Natur, Mensch und Okonomie – und erlangt dabei ein neues Verstandnis der vielfaltigen okonomischen, okologischen und sozialen Krisen, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Dabei versteht er das Erfahren von Lebendigem nicht als etwas, das man konsumiert, sondern als emotionalen Prozess, der in dieser Gegenseitigkeit etwas Gutes, Kreatives und Zukunftsfahiges hervorbringt.