Menschen halten es nicht lange aus, zum Objekt gemacht zu werden

Im Gespräch mit Gerald Hüther

Gerald Hüther

Für Hüther ist das menschliche Gehirn ein durch soziale Beziehungserfahrungen strukturiertes Organ

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Gerald Hüther schafft wie kaum ein anderer Naturwissenschaftler den Transfer von Erkenntnissen aus seiner Hirnforschung zu konkreten Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen. Inzwischen ist Potentialentfaltung sein Lieblingsthema. Darum geht es letztlich auch den Demeter-Akteuren. Im Gespräch zwischen dem bekannten Göttinger Neurobiologen und dem Abteilungsleiter Qualität im Demeter e.V., Sebastian Fuchs, entwickelt sich eine offene Diskussion zum Spannungsfeld von Kontrolle und Vertrauen.

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In der Altbau-Villa der „Akademie für Potentialentfaltung“ zeichnet der Professor ein manchmal beängstigend düsteres Bild der Zukunft. Energisch fordert er Demeter auf, das gemeinsame Anliegen - eine menschengemäße Zukunft zu gestalten - stärker in den Fokus zu nehmen. Sebastian Fuchs bringt nicht nur in seiner Arbeit, sondern auch im Austausch mit Hüther die Spannung zwischen Ideal und Marktzwängen zum Ausgleich.

Moderation: Renée Herrnkind

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Demeter steht einerseits für strengste Richtlinien und konsequenteste Kontrollen, andererseits verstehen sich die biodynamischen Erzeuger und Verarbeiter als Teil einer Entwicklungsgemeinschaft. Sie setzen auf Eigenverantwortung, wollen sich ihrem Ideal immer mehr annähern. Wie gelingt eine Balance zwischen Sicherheit und Vertrauen?

Sebastian Fuchs Das erlebe ich tatsächlich als Dilemma. Bei den Erzeugern, den Bäuerinnen und Bauern, haben wir zum Teil schon in dritter Generation hoch motivierte Mitglieder. Sie gehen aus eigenem Antrieb manchmal wirklich in allen Bereichen deutlich über die Vorgaben unserer Richtlinien hinaus. Dann bekommen sie einmal im Jahr einen Kontrollbesuch. Der wird der Arbeit dieses engagierten Partners nicht gerecht. Im Bericht steht dann nicht drin, dass der Betriebsleiter super engagiert ist, viel mehr geleistet hat als vorgeschrieben, sondern wird eher angemahnt, dass noch ein Formular fehlt etwa für die Unbedenklichkeit des eingesetzten Mineralfutters für die Kühe. Diese Demeter-Akteure erleben die Kontrolle als ein rein administratives Verfahren. Die Betriebsleiter*innen fühlen sich nicht wirklich wertgeschätzt. Auch bei den Herstellern haben wir Partner mit hohen Ansprüchen und besonderem Engagement. Aber diese Unternehmen können mit Kontrolle oft besser umgehen. Sie haben Erfahrung mit Audits unterschiedlichster Art und fühlen sich dadurch nicht gegängelt. Sie sehen eher die Notwendigkeit, das Verbraucherverlangen nach Überprüfung und Sicherheit zu erfüllen. Klar ist aber: auch bei den Herstellern wird nicht ausreichend gewürdigt, was sie über die Vorschriften hinaus tun. Da fehlt schon manches Mal die Anerkennung für das, was sie für die biodynamische Gemeinschaft leisten.

Gerald Hüther Der Verbraucher will natürlich nicht übers Ohr gehauen werden: Er will sich sicher sein, dass drin ist, was drauf steht. Das Problem, das Sie schildern, haben andere auch und es gibt Unternehmen, die es gelöst haben. Mein Ansatz dafür: diejenigen, die kontrolliert werden, zum Teil des Kontrollsystems zu machen. Das klingt vielleicht erst mal nach Selbstkontrolle, geht aber darüber deutlich hinaus. Wer hat bei Demeter denn die Kontrolleure ausgewählt? Haben Sie Anstrengungen unternommen, Ihren Mitgliedern zu ermöglichen, das Kontrollsystem selbst in Gang zu setzen?

SF Nur zum Teil. Wir sind auf die staatlich zugelassenen Kontrollstellen angewiesen. Die machen neben der EU-Bio-Kontrolle auch die Demeter-Überprüfung auf Einhaltung der biodynamischen Richtlinien. Allerdings haben wir nur acht von insgesamt 24 Kontrollstellen als Demeter-Kontrolleure ausgewählt. Zum Kontrollgang kommen bei uns noch Hof- und Betriebsentwicklungsgespräche. Da tauschen sich dann die Berufskollegen aus und schauen, wo sich der Hof oder der Hersteller weiter entwickeln will oder muss. Das mündet in verbindliche Zielsetzungen.

„Wir brauchen Gemeinschaften, deren Mitglieder einander einladen, ermutigen und inspirieren, über sich hinauszuwachsen.“ Gerald Hüther

Mitbestimmen über den Kontrollgang

GH Diejenigen, die Demeter-Produkte produzieren, könnten ja auch ein Gremium einsetzen, das mit der entsprechenden Konsequenz die Kontrolle vornimmt Ich sag´ das nicht ohne Grund. Es ist ja deshalb ein Dilemma, weil Sie in einer sehr guten Beziehung zu Ihren Produzenten stehen. All diese Mitstreiter sind bereit, sich einzubringen, haben ein starkes inneres Motiv. Sie wollen als Subjekte gesehen werden. Das gelingt, wenn sie mitbestimmen, wie der Kontrollgang gestaltet ist. Das ist genau die Voraussetzung für Potentialentfaltung. Wenn Menschen gezwungen werden - durch Verbraucher-Erwartung oder Behörden-Vorgaben -  dann werden diese eigentlich so wunderbar hoch motivierten, eigenverantworlichen Subjekte zu Objekten. Da kann ich neurobiologisch nur sagen „herzlichen Glückwunsch“, denn damit machen Sie intrinsische Motivation kaputt. Sie untergraben das Vertrauen Ihrer Produzenten und erzeugen tiefen inneren Widerstand gegen dieses von außen aufgezwungene Instrument. Die Lösung heißt aus meiner Sicht: lassen Sie diese Produzenten selbst ein Gremium gründen und mit entsprechenden Befugnissen ausstatten. Natürlich nicht beliebig, sondern aus der Einsicht in gesetzliche Vorgaben gestaltet.

Was macht diese Verwandlung vom Objekt zum Subjekt innerhalb des Kontrollprozesses mit dem Vertrauen der Verbraucher?

GH Die ausgewählten Kontrolleure dürfen natürlich nicht aus dem eigenem Kreis kommen. Sie müssen unabhängig sein, ohne Eigeninteressen. Die Kunst besteht darin, diese externen Kontrolleure zu finden, denen Sie vertrauen. Sie müssen genau hinschauen und wissen, was Demeter im Ideal will. Damit gewinnen Sie eine Kontrolle, die weit darüber hinausgeht, was gesetzlich gefordert ist. Mit dieser freiwilligen Selbstkontrolle ist Platz für all die wunderbaren Dinge, die viele Ihrer Partner realisieren und die sich Verbraucher*innen von Demeter wünschen.

SF Dafür haben wir durchaus schon Ansätze entwickelt, gerade mit den Betriebsentwicklungsgesprächen. Genau dadurch wollen wir die Partner als handelnde „Subjekte“ wahrnehmen und stärken. Kennen Sie Unternehmen, die einen solchen Wandel schon tiefgreifend vollzogen haben?

GH  Mit unserer Initiative „Kulturwandel“ begleiten wir Organisationen, die eine Wiederherstellung der Subjekthaftigkeit der Akteure geschafft haben. Das führt  zu unglaublichen Leistungen – die heißen ja am Ende Gewinne (lacht). Entscheiden wird letztlich immer der Konsument, und auch der Kunde muss sich als Subjekt gesehen fühlen.

Das erleben wir zum Beispiel, wenn sich Verbraucher ganz eng mit Demeter-Höfen verbinden, etwa bei solidarischer Landwirtschaft. Wie wirkt sich das auf die Entwicklung von  Höfen aus?

SF Ich war jahrelange selber auf einem solchen Gemeinschaftshof engagiert, als begleitender Student und Betriebshelfer. Gesamtverbandlich ist es aber eher ein Orchideenthema, selbst wenn doch immer mehr Höfe dieses Modell umsetzen. Unsere großen Verarbeiter orientieren sich zum überregionalen Handel. Wenn Konsumenten unmittelbar auf Höfen eingebunden sind, spielt für sie die Kontrollfrage eigentlich überhaupt keine Rolle mehr. Ich behaupte, alle Betriebe, die stark in der Direktvermarktung sind, brauchen zur Verbraucherkommunikation die Kontrolle gar nicht. Wenn Kunden auf dem Hof rum laufen können schwindet deren Bedürfnis nach Überprüfung. Da vertraut jeder auf sein eigenes Erleben und den Austausch mit den beteiligten Menschen. Über zwei, drei Stufen der Handelswege ist das viel schwieriger zu kommunizieren. Je anonymer der Markt, desto höher das Bedürfnis nach Kontrolle, nach einer Instanz, die neutral und unabhängig überprüft ob alles erfüllt ist.

Auch der Kunde will als Subjekt gesehen werden

Damit sind wir beim Thema "Wie entsteht Vertrauen?“

GH Vertrauen lässt sich nicht in der Anonymität herstellten, es sei denn, sie haben eine Vertrauenskette über die Stufen der Wertschöpfungskette hinweg aufgebaut. Wenn Organisationen zu groß und zu anonym werden, entstehen unpersönliche Großautomaten. Wenn es dann nur noch ums Verkaufen geht, wird auch der Verbraucher zum Objekt. Ich kann mir als Hirnforscher nicht vorstellen, dass darin die Zukunft liegt. Menschen halten das nicht lange aus, zum Objekt von Maßnahmen gemacht zu werden. Um glücklich zu sein brauchen Menschen, das Gefühl von eigener Subjekthaftigkeit, und damit verbunden immer auch Gestaltungskraft. Hat nicht auch Rudolf Steiner schon genau auf diese Erkenntnis hingewiesen?

SF Wir als Demeter e.V. sind ja nicht im klassischen Sinne ein Unternehmen, sondern eine Assoziation von 2000 Unternehmen, die sich zusammen getan haben, um einem gemeinsamen Ideal zu folgen. Das geht einher mit extrem unterschiedlichen Strukturen und Persönlichkeiten - vom Gärtner mit drei Hektar Land bis zum international agierenden Hersteller. Das zeigt sich auch ganz stark in der Motivation der Verbindung zu Demeter.  Leitet mich das gemeinsame Ideal, folge ich einer Familientradition oder bin ich jetzt biodynamisch weil meine Handelspartner das verlangen? Diese Interessen alle ins gleiche Kontrollsystem zu pressen ist eine noch größere Herausforderung als die Frage, wie wir weiterhin diese Spitzenwerte beim Verbraucher in Sachen Vertrauen sichern. Ich behaupte, noch wählen die meisten Bio-Konsumenten die Kontrollfrequenz als Basis ihres Vertrauens.

GH Ich schaue darauf aus der Perspektive der Neurobiologie. Da geht es immer um Kohärenz, um die Minimierung der zur Aufrechterhaltung des Systems benötigten Energie. Am wenigsten Energie verbraucht eine menschliche Gemeinschaft, ein Unternehmen wenn das, was die beteiligten Menschen wollen, optimal zusammenpasst. Bei  unterschiedlichen Interessenslagen muss es gelingen, klar zu definieren, was diese unterschiedlichen Kräfte als gemeinsames Anliegen verfolgen. Jeder braucht die Zustimmung aller Beteiligten zu diesem gemeinsamen Anliegen. Nur dann können sich alle Beteiligten damit identifizieren. Das dürfte bei Demeter nicht ganz einfach sein, weil sie unterschiedliche Kräfte zusammenführen müssen. Das ist á Priori ungeschickt würde ich jetzt mal sagen. Sie sind in der schwierigen Situation, einzelne Interessen, die sich innerhalb der Demeter-Gemeinschaft zu gemeinsamen Gruppen-Anliegen verbinden, zu einem Gemeinsamen zusammenzuführen. Das versuchen Sie zu definieren, etwa im Leitbild. Dabei kommt dann nicht unbedingt das gemeinsame Anliegen heraus, sondern eher die Anliegen der verschiedenen Interessensgruppen. Das verhindert Entwicklung, das macht Potentialentfaltung zumindest schwer. Sie müssen das gemeinsame Anliegen herstellen, vielleicht auch wiederherstellen. Es geht bei Demeter doch nicht vorrangig um Gewinnmaximierung. Sie dürfen Ihr Ideal doch nicht dem Markt opfern.

SF Was Sie hier beschreiben kommt dem assoziativen Wirtschaften, das Rudolf Steiner angeregt hat, ja sehr nahe. Wir arbeiten gemeinsam daran, dem immer stärker gerecht zu werden. Dafür begegnen sich unsere Mitglieder über alle Ebenen der Wertschöpfungskette vom Pflanzenzüchter über den Erzeuger bis zum Verarbeiter, dem Händler und nicht zuletzt bis zum Verbraucher an runden Tischen, in Fachgruppen.

Sebastian Fuchs
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Der Egozentriker braucht Kontrollen

GH Sie werden sich damit abfinden müssen, dass immer mehr Ihrer bisherigen Käufer sich nach lokalen und regionalen Vermarktungen umschauen und dahin gehen. Sie sind dort bereit, den doppelten und dreifachen Preis zu zahlen. Alle anderen werden sich weiter mit Labels und Kontrollen abspeisen lassen.

Was sind das dann für Konsumenten – was unterscheidet sie voneinander?

GH Die einen wollen nur selbst gesund bleiben und dafür die entsprechenden Produkte, die von einer Instanz kontrolliert sind. Ich nenne sie Egozentriker, denen reicht Kontrolle. Dann gibt es die Menschen, die ihre Heimat, die Gegend, die Natur, Vielfältigkeit, den Globus als wunderbarer blauen Planeten am Herzen liegt und deshalb führen sie ein anderes Leben. Denen geht es nicht um Kontrolle.

Sondern?

GH Um Vertrauen. Wenn sie das Vertrauen entwickelt haben, dass es nicht nur ein gutes Produkt ist, sondern auch ein Unternehmen dahinter steht, das als höheres Anliegen verfolgt, was der Verbraucher auch im Herzen trägt, dann identifiziert sich der Verbraucher mit diesem Unternehmen.

Wie wächst ein selbstloses Verhalten, das sich an Verbundenheit orientiert

GH Es beginnt damit, dass wir Kindern andere Erfahrungen ermöglichen. Man kann ja nur Verantwortung übernehmen und Vertrauen gewinnen für das, was man unmittelbar kennen gelernt hat, womit man sich verbunden fühlt. Also Kinder auf die Höfe, in die Ställe, in die Käserei, die Bäckerei. Sie selbst erleben lassen wie Tiere und Pflanzen leben und wie sie leben wollen. Sie werden dann später keine Produkte kaufen, bei denen sie wissen, da werden Lebewesen wie Objekte behandelt. Sie wollen dann nicht auf Kosten von anderen leben. Das hat mit einem bestimmten Selbstbild zu tun, wo sie sich als Teil eines Größeren begreifen. Das nenne ich Würde. Kinder müssen Erfahrungen machen, die ihnen helfen, sich ihrer eigenen Würde bewusst zu werden. Da wir aber in einer würdelosen Gesellschaft leben, in der Würde keine Rolle spielt und zu allerletzt in der Schule, kann auch kein Bewusstsein dieser Würde entstehen und dann kauft man Produkte nach Katalog und achtet lediglich auf Kontrolle.

SF Uns in der Demeter-Gemeinschaft verbindet die innere Haltung, mit der wir unsere Arbeit tun. Respekt für das Lebendige, würdevoller Umgang mit Boden, Pflanze, Tier und Mensch. Das sind unsere Wurzeln, die aus Steiners Impulsen wachsen.

GH Damit ziehen Sie Leute an, die diese Haltung teilen.

Will Demeter Produkte verkaufen oder Lebensinhalte?  

Immer mehr Menschen orientieren sich hin zum veganen Lebensstil. Sterben Nutztiere demnächst aus?

GH Transformation von Lebenseinstellungen vollzieht sich doch nie im Eilverfahren und in Massen. Wir reden nicht von Abschaffung von Tierhaltung. Wir reden darüber, dass wir durch Bewegungen, die diese unerträgliche Massentierhaltung anprangern, das Leben der Tiere hoffentlich verändern und verbessern. Was wollen Sie bei Demeter eigentlich verkaufen – Produkte oder Lebensinhalte? Früher hat die Automobilindustrie Autos verkauft, jetzt verkaufen sie Mobilität. So könnte Demeter etwas werden, wo diejenigen hingehen, die nach Nahrungsmitteln suchen, die mit dem Bedürfnis übereinstimmen, auf diesem Planeten noch eine Zeitlang leben zu können.

SF So sehr ich einen guten Festtagsbraten schätze – ich muss mich fragen, wie ist der Bauer mit dem Tier umgegangen, wie der Schlachter beim Töten, der Metzger beim Verarbeiten. Wenn das für mich stimmig ist, kann ich alle vier Wochen einen Sonntagsbraten vor mir und meinen Kindern verantworten.

GH Dann holen Sie den Festtagsbraten auch nicht im Supermarkt, sondern beim Demeter-Bauern, wo sie die Tier lebend gesehen haben.

SF Genau. Und wir arbeiten dafür, Bodenfruchtbarkeit, Diversität, Hoforganismus aufrechterhalten, ohne Tiere nur als Fleischlieferanten zu sehen.

Nahrung shoppen in der virtuellen Welt?

GH Das ist genau der Punkt. Das sind Prozesse, die gar nicht so schnell gehen müssen. Über die müssen wir jetzt nachdenken und sie in die richtige Richtung lenken. Wir leben in der Welt der Digitalisierung. Es wird immer mehr Menschen geben, die ihr Leben in 20 Jahren mit der Virtual-Reality-Brille verbringen werden. Dann wird es das bedingungslose Grundeinkommen geben. Viele Berufe werden ausgestorben sein. Warum sollten wir Dinge tun, die Automaten besser machen? Wenn wir nicht bald in unserem Bildungssystem aufräumen, wird es dann immer noch viele Menschen geben, die nur wegen Geld arbeiten und nicht aus Freude und Gestaltungswillen. Wenn man denen ein Grundeinkommen gibt, werden die auf dem Sofa sitzen und sich virtuelle Realitäten kaufen. Sie gehen dorthin wo sie hin wollen ohne sich zu bewegen. Sie schaden zwar keinem mehr, sie werden sich auch nicht vermehren, weil sie ihre sexuellen Bedürfnisse nur noch vor Bildschirmen ausleben können. Denen können Sie auch Astronautenfutter verkaufen. Das sieht durch die VR-Brille aus als sei es auf dem schönsten Bio-Hof gemacht. Wir müssen erreichen, dass ein Kind aus der Schule Freude am eigenen Gestalten und am Entdecken mitbringt. Nur solche Menschen werden überleben.

SF Es wäre wünschenswert, wenn die Schule daran arbeiten würde, aber ich behaupte, das müssen primär die Eltern machen.

GH Aber das können nur Eltern, die solche Erfahrungen selbst gemacht haben. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung kann das.
Welche Rolle spielt für diese Entwicklung das Essen?

GH Wir wissen es ja alle: Essen kann nur genussvoll erlebt werden, wenn es dem Menschen  gut geht. Sonst isst der Mensch, weil ihm langweilig ist oder er Frust hat. Einem Menschen, der nicht bei sich ist, ist auch die Qualität des Essens egal. Wenn Menschen das Essen nicht als Èrsatzbefriedigung für vernachlässigte Bedürfnisse benutzen müssen, werden sie immer lustvoll essen, mit allen Sinnen und nie zu viel.

Was ist Ihr Lieblingsessen?

GH Thüringer Klöße. Ich komme ja aus Thüringen und verbinde mit Nahrungsmitteln auch Heimat. Die esse ich mit Rotkohl und Rindsrouladen, vielleicht zweimal im Jahr. Und natürlich hole ich die Roulade dort wo ich die Rinder lebendig gesehen habe. Ich liebe genussvolles Essen – aber ich glaube nicht, dass sich das menschliche Leben im Zubereiten von Essen erschöpft.

SF Ich habe so viele Lieblingsessen, die sind immer mit emotionalen Erinnerungen an Erlebnisse verbunden. Wenn ich also sage, Steinpilze sind meine Lieblingsspeise, dann müssen sie selbst gesammelt sein und vor meinem inneren Auge das Bild hochladen, wie ich als Junge mit meinem Vater durch den Oberpfälzer Wald streife. 

Gerald Hüther Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Nach Biologiestudium, Forschungsstudium und Promotion an der Universität Leipzig Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen. Erforscht den Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, Auswirkungen von Angst und Stress und die Bedeutung emotionaler ReaktionenSeit 2015 Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung. Hüther wurde 1951 in Thüringen geboren.

 

Sebastian Fuchs leitet die Abteilung Qualität (Qualitätsentwicklung, -management, -sicherung und Zertifizierung) im Demeter e.V. Der 39jährige ist gelernter Koch und hat der Sterne-Gastronomie den Rücken gekehrt, um Politik, Ernährungsökologie und Ernährungswissenschaften zu studieren. Er ist Vater von vier Kindern.

So gelingt Potentialentfaltung

Gerald Hüther ist zutiefst überzeugt: „Das in uns Menschen angelegte Potential ist bisher nur in Ansätzen zur Entfaltung gekommen. Der Grund dafür ist nicht die begrenzte Entwicklungsfähigkeit unserer Gehirne, sondern unsere Unfähigkeit zur Herausbildung von kokreativen Gemeinschaften. Solche Gemeinschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie jedem einzelnen Mitglied nicht nur größtmögliche Freiräume, sondern auch optimale Möglichkeiten und Anregungen für seine individuelle Entwicklung bieten und gleichzeitig ein Höchstmaß an Verbundenheit und Geborgenheit gewährleisten. Die Mitglieder solcher individualisierten Gemeinschaften machen sich nicht länger gegenseitig zu Objekten ihrer jeweiligen Absichten und Interessen oder ihrer Erwartungen und Bewertungen. Stattdessen begegnen sie einander als Subjekte. Sie emanzipieren sich von ihren Objektrollen und beginnen so als Einzelne wie auch als Gemeinschaft über sich hinauszuwachsen: sie ermöglichen Transformationsprozesse der bisherigen Beziehungskultur in eine Kultur der Begegnung, des Austausches und der Potentialentfaltung.“

www.gerald-huether.de

www.akademiefuerpotentialentfaltung.org

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Dieser Artikel stammt aus dem Demeter Journal 35.