Inklusion heißt nicht Gleichmacherei sondern Teilhabe für jeden

Verena Bentele und Alexander Gerber © Fotostudio Viscom

Verena Bentele veröffentlicht auf ihrer Homepage eine lange Liste der Herausforderungen, die sie in den letzten Jahren gesucht – und bewältigt hat. Die 34-jährige kam blind zur Welt, sicherlich ist allein dieses Handicap schon eine besondere Herausforderung.

Aber die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen und erfolgreichste Paralympics-Sportlerin im Biathlon meint: „So interessiert an Grenzerfahrungen wäre ich wahrscheinlich auch, wenn ich sehen könnte.“ Alexander Gerber, Vorstandssprecher von Demeter Deutschland, trifft die quirlige junge Frau in ihrer Heimat Tettnang ganz in der Nähe des Bodensees. „Willkommen am schönsten Fleck der Erde“, begrüßt Verena Bentele ihn auf dem Demeter-Obsthof ihrer Familie. Vater und Betriebsleiter Peter setzt sich mit in die Runde.

Moderation: Renée Herrnkind

Ein Handicap in Stärke verwandeln, das wird ja gern so gesagt. Ist das ein beschönigender Blick auf Behinderungen?

Verena Bentele: Für mich ist das eine Frage der Haltung. Ich denke schon über die Dinge nach, die ich als blinde Frau nicht kann, weil sie mir im Alltag immer begegnen. Aber ehrlich gesagt: Es hängt am Ende von mir selbst ab, ob ich meine Stärken und Fähigkeiten nutze, ganz egal ob ich ein Handicap habe oder nicht. Jeder Mensch hat Einschränkungen, meine ist eben offensichtlicher als die anderer Menschen. Selbst als Sehende hätte ich nie Mathematik studieren können (lacht)! Da habe ich eine klare Begrenzung.

Grenzen sind Ihr Thema. Sie testen gern wie weit Sie gehen können.

VB So wäre ich vielleicht auch, wenn ich sehen könnte. Ich weiß schon gern, wo die Grenze ist.

Alexander Gerber: In Ihrer Sportlerkarriere und auch danach haben Sie offenbar immer Extreme, vielleicht auch Risiken, gesucht. Ich erlebe mich als neugierig und abenteuerlustig, aber ich gehe nicht in Extreme, in denen ich das Risiko nicht mehr einschätzen kann. Ein Sicherheitspuffer muss sein – egal, ob ich in die Berge steige oder segele. Was ist die Triebfeder, den 6000er zu bezwingen und nicht „nur“ die Alpen zu erklimmen?

VB (lacht) Vielleicht bin ich von daheim so geprägt. Meine Neugier bringe ich mit, sie treibt mich an. Glücklicherweise haben unsere Eltern uns nicht gebremst. Ich bin schon als kleines Kind sehr gern richtig schnell Ski gefahren. Ich mag Geschwindigkeit, warte ungern, bin ungeduldig. Tempo ist mein Element. Aber ich werde schon ruhiger. Es hat manchmal auch Nachteile, so schnell zu sein. Schnelle Menschen übersehen vielleicht auch mal was. Andererseits schaffen schnelle Menschen auch viel. Am Kilimandscharo habe ich das langsam Gehen durchaus zu schätzen gelernt, ab 5000 Meter Höhe reguliert sich das Tempo von allein. Ich habe beim langsamen Gehen vor allem gut nachdenken können. Entspannt ein Ziel zu erreichen kann auch gut tun. Das war eine neue und wichtige Erfahrung. 

Wichtig ist, was jemand kann

Nicht, was er nicht kann

Hat Sie das Aufwachsen auf einem biodynamischen Hof geprägt? Bieten Demeter-Betriebe ein besonders gutes Umfeld für Kinder?

VB Die Vergleichsgröße fehlt mir – ich kenne nicht so viele blinde Kinder, die auf Demeter-Höfen aufgewachsen sind (lacht). Aber im Ernst: Unsere Eltern hatten immer schon die Haltung, mit ihren beiden blinden Kindern eine größtmögliche Normalität zu leben. Für sie war klar, dass wir alle alles zusammen machen.

Peter Bentele (Vater, Obstbauer, Ortsbürgermeister) Gemeinsam habe ich mit meiner Frau entschieden, auf biodynamisch umzustellen. Die Kinder sind ganz selbstverständlich mit dieser Entscheidung, mit dem Hof aufgewachsen. Unser sehender Sohn Johannes hat eher beim Apfelpflücken geholfen, während Michi und Verena die Spülmaschine ausgeräumt und den Tisch gedeckt haben. Jeder nach seinen Fähigkeiten. Genauso war das bei Freizeitaktivitäten. Für gemeinsame Fahrrad-Touren haben wir zwei Tandems angeschafft und beim Skifahren haben wir die Kinder am Anfang zwischen den Beinen fahren lassen, später sind sie uns dann hinterher gefahren. In unserer Familie war und ist immer das wichtig, was jemand kann, und nicht das, was nicht geht. Verena war schon immer die schnelle und sportliche.

Peter Bentele
Bildrechte
Fotostudio Viscom
Peter Bentele ist nicht nur Demeter-Obstbauer, sondern seit zwei Jahren auch Ortsbürgermeister

Gibt es für eine solche grundsätzliche Haltung eine besondere Kraftquelle, etwa die Anthroposophie?

PB Die beste Freundin meiner Mutter ist Anthroposophin. Sie hat mich schon früh auf Demeter-Höfe mitgenommen. Der biodynamische Impuls hat mir immer gut gefallen, aber ich sah keine Möglichkeit, ihn im intensiven Obstbau anzuwenden. Durch einen Unfall habe ich mich damit dann tiefgehender befasst. Sechs Wochen im Bett aufgrund einer Verbrennung haben mir die notwendige Zeit verschafft. Damals habe ich alle Informationen richtig eingesogen. Ich wollte weg von der Chemie in der Landwirtschaft, habe mich umgeschaut, welches ist die konsequenteste Methode für naturgemäße Landwirtschaft. Da kommt man dann geradezu zwangsläufig zu Demeter, nicht wahr? Erst mit der Zeit habe ich mich mit Anthroposophie und den geistigen Hintergründen beschäftigt. Erst war da die biodynamische Praxis. Gerade diese pragmatische Komponente hat es uns auch leichter gemacht, den beiden blinden Kindern Wege zu ebnen, alles mitzumachen.

Jetzt leben Sie, Frau Bentele, überwiegend in Berlin und München. Welches Umfeld halten Sie denn für Kinder für besser geeignet, das eher städtische oder das ländliche?

VB Meine Kindheit auf dem Land hat mir viel Freiraum ermöglicht. Ich konnte meinen Bewegungsdrang gut ausleben. Das ist auf dem Land viel einfacher als in der Stadt. Aber in der Stadt lernen Kinder andere Dinge, kommen früh mit öffentlichen Verkehrsmitteln klar, kennen viel mehr kulturelle Angebote. Für mich als blinde Frau ist das Leben in der Stadt als Erwachsene einfacher. Aber ich hätte in München und Berlin nie allein Fahrrad fahren können, nie Ponys haben können. Ich liebe es, Platz zu haben und mich zu bewegen. Also laufe ich in der Stadt eben Treppen statt mit dem Aufzug zu fahren.

AG Als Kind habe ich in Stuttgart gelebt. Da bin ich mit Körben und Säcken voll Gras nach Hause gekommen und habe sie im Keller deponiert. Und auf die Frage meiner Eltern, was ich vorhabe, habe ich verkündet: ich halte mir hier eine Kuh (lacht). Ich hatte die Landwirtschaft schon in der Stadt im Blut. Die Herbstferien habe ich genossen – da durfte ich schon als kleiner Junge allein für zwei Wochen auf einen kleinen Hof auf die Schwäbische Alb. Die Kühe im Stall direkt neben der Küche, das Füttern dieser großen Tiere, die Rüben mit ihrem erdigen Geruch, morgens rausfahren auf die Streuobstwiesen und das vom Tau feuchte Futter mähen: Diese Bilder haben mich tief geprägt: Unsere beiden Kinder wiederum sind neben einem kleinen Demeter-Gärtnerhof aufgewachsen. Da waren sie buchstäblich Tag und Nacht. Mit dem Esel und den Hühnern haben sie Circusübungen einstudiert und am Wochenende ist der Bauer mit Traktor und Hänger mit ihnen von Vorstellung zu Vorstellung gefahren. Als Jugendliche sind sie dann mit uns nach Berlin umgezogen und die Großstadt war für dieses Alter genau passend.

PB Als Jugendlicher habe ich zehn Jahre Kaninchen gezüchtet und Zwergesel gehalten. Mit denen bin ich geritten und wie ein Bauer mit seinem Pferd rausgefahren um Gras reinzuholen für die Kaninchen.

Alexander Gerber
Bildrechte
Fotostudio Viscom
Alexander Gerber hatte schon als Kind in der Stadt die Landwirtschaft im Blut

Als Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen können Sie auf viele Erfolge der letzten Jahre zurückblicken – Stichwort Inklusion. Gibt es dabei auch Verknüpfung zu Demeter-Betrieben?

VB Ich erlebe diese Arbeit als spannende Aufgabe. Sie bringt ganz unterschiedliche Facetten zusammen, etwa wenn ich mit diversen Ministerien an Gesetzen arbeite. Ich bin in Sachen Gesundheitsversorgung oder barrierefreie Arztpraxen aktiv, spreche bei Veranstaltungen, bin im Austausch mit Verbänden und Selbstvertretungsorganisationen, gestalte Kulturarbeit, mache Betriebsbesichtigungen von der Autoindustrie bis hin zu biodynamischen Höfen wie etwa die Camphill-Gemeinschaft Lehenhof. Das ist ja ein Demeter-Betrieb. Gerade im Bereich Beschäftigung wünsche ich mir, dass Menschen mit Behinderung mehr Möglichkeiten haben. Ein Arbeitsplatz kann hier auch die Mitarbeit in einem Landwirtschaftsbetrieb sein. Wie in allen Betrieben auch werden auf dem Bauernhof, in der Hofverarbeitung, in Gärtnereien ganz unterschiedliche Fähigkeiten benötigt. Das wichtigste für alle Menschen ist, dass ihre Fähigkeiten gesehen und gebraucht werden. Inklusion war für meine Familie immer schon gelebter Alltag. Durch meine Eltern und ihren Obst- und Hopfenhof habe ich erlebt, dass es für jeden Menschen einen richtigen Platz gibt, sei es beim Äpfel sortieren, beim Bäume schneiden oder beim Mäuse fangen. Entscheidend für uns alle ist zu sehen, was wir geschafft haben am Ende des Tages. So entsteht Sinnstiftung – nicht zuletzt gerade in der Landwirtschaft.

Die Sonderwelten der Behinderten aufbrechen

Also alles gut für Menschen mit Behinderung?

VB Nein, so einfach ist es nicht. Es gibt noch viel zu tun. In den letzten Jahrzehnten waren viele Menschen in speziellen Einrichtungen, wie Werkstätten für behinderte Menschen oder Wohneinrichtungen. Damit haben wir Sonderwelten aufgebaut. Das jetzt aufzubrechen ist anspruchsvoll. Wir alle gehören in eine Gesellschaft, wir sollten nebeneinander wohnen, zusammen leben und unsere Freizeit verbringen. Das zu erreichen ist ein Weg, auf den wir uns auch in der Politik gemacht haben.

AG Mich interessiert, ob Sie da auch Grenzen des ganz selbstverständlichen Nebeneinanders sehen? Mir fällt dazu das Beispiel der Camphillschulen ein, wo geistig Behinderte mit dem exakt gleichen Lehrinhalten wie alle anderen Waldorfschüler beschult werden - das fand ich immer eine tolle Geste.

VB Da widerspreche ich: Das ist keine Geste, sondern ein Menschenrecht. Die Waldorfschule Emmendingen unterrichtet beispielsweise seit vielen Jahren Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam, von der ersten bis zur zwölften Klasse. Die Schüler lernen voneinander, profitieren von der anderen Perspektive des Mitschülers.

AG Sorry, da bin wohl missverstanden worden. Auch für mich ist es keine Frage, dass Schulbildung für jeden Menschen ein Menschenrecht ist. Die Frage ist, was wird dem einzelnen Menschen in seiner Besonderheit gerecht. Sehen Sie da Grenzen, eine Gefahr der Nivellierung, das Risiko, Menschen mit Behinderung nicht mehr, gerade mit ihren besonderen Fähigkeiten, gerecht zu werden?

VB Inklusion heißt nicht Gleichmacherei sondern Teilhabe für jeden. Grenzen hat jeder – ich bin beispielsweise eine gute Sportlerin, treffe aber keinen Ball vernünftig (lacht). Ein Schulsystem für alle Kinder heißt, dass die Förderung für alle passt. Für Kinder, die keine Behinderung haben, aber nicht gern und gut in großen Gruppen lernen, muss beispielsweise auch eine gute Lernumgebung gewährleistet sein.Ich sehe absolut eine Chance darin, unser Schulsystem inklusiv neu zu denken.

Rennen Sie mit diesem Denkansatz offene Türen ein?

VB Ich erlebe da durchaus auch geschlossene Türen. Das Begrenzende sind oft Vorurteile, viele Menschen glauben zu wissen, was mit einer Behinderung geht und was nicht. Grenzen gibt es natürlich auch durch Ressourcen. Einige spezielle Förderungen kosten mehr Geld, und dann bleiben Türen leider oft geschlossen. Richtig schwer tun sich die Gymnasien mit der Inklusion – schade. Auch Gymnasiasten profitieren davon, wenn Kinder mit besonderen Fähigkeiten in ihren Klassen sind. Natürlich spielt die Angst vor dem Unbekannten, dem Ungewohnten eine Rolle. Wie kann das Neue gelingen?

Verena Bentele
Bildrechte
Fotostudio Viscom
Verena Bentele sucht immer wieder den Kampf gegen ihren inneren Schweinehund. Sie möchte körperlich und mental bis an ihre Grenzen gehen und sie immer wieder verschieben.

Das Besondere als Bereicherung sehen

AG Wenn man auf die Entwicklung der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten schaut hat sich wahnsinnig viel getan für Menschen mit Behinderungen. Jeder Bahnhof hat einen Aufzug…

Verena Bentele unterbricht: Längst noch nicht jeder Bahnhof ist barrierefrei, das weiß ich aus vielen Zuschriften und eigenen Erfahrungen.

AG … Okay, also auf vielen Bahnhöfen. Auch im Umgang mit Minderheiten generell hat sich viel bewegt. Es ist beispielsweise selbstverständlich, dass Homosexuelle heiraten dürfen – noch vor wenigen Jahren undenkbar. Das sind für mich wichtige Entwicklungen. Was ich mich dabei frage, ist jedoch, ob wir nur schlicht toleranter geworden sind und ob uns in Wahrheit nicht noch ein wichtiger Erkenntnisschritt fehlt: Es fehlt, dass wir es als hohen Wert und für die Entwicklung unserer Gesellschaft als unabdingbar ansehen, dass wir diese Vielfalt an Menschen in unserer Gesellschaft haben. Wir neigen als Gesellschaft dazu, nicht nur in der Normalität zu versinken, sondern diese auch anzustreben. Menschen, die – egal wie – von dieser Normalität abweichen, sind aber die, die uns Fragen stellen lassen und uns damit weiter bringen. Sind wir also schon da, wo wir beim Stichwort Inklusion sein müssten? Sind nur ein paar Rechte abgearbeitet, die erfüllt werden müssen, oder haben wir schon wirkliche Wertschätzung erreicht?

VB Da haben Demeter und die Inklusion durchaus einiges gemeinsam. Die Philosophie von Demeter ist für Überzeugte wie uns ganz normal, wertschätzend mit der Natur, den Tieren, dem Lebendigen umzugehen und beste Lebensmittel zu produzieren. So ist es auch mit der Inklusion. Für mich ist klar, dass wir diese Wertschätzung brauchen, dass es genau darum geht, das Besondere als Bereicherung zu sehen. Für viele Menschen ist das jedoch (noch) nicht selbstverständlich. Ich erlebe das sogar auf Veranstaltungen bei denen es um Inklusion geht. Da bekomme ich selbstverständlich ein Blatt Papier mit langen Texten hingelegt – nicht in Brailleschrift, sondern in Schriftgröße 12. Nur weil ich darauf hinweise, schicken mir inzwischen einige Veranstalter die Texte vorab digital, so dass ich sie am Computer lesen kann. Aber das ist noch immer keine Selbstverständlichkeit. Also bleibt noch viel zu tun.

AG Um es mal an einem Beispiel fest zu machen: Mein Vetter hat sich als Sonderschullehrer um die Schüler kümmern müssen, die selbst in einer Förderschulklasse nicht zu unterrichten waren. Dabei hat er herausgefunden, warum sie zu Problemschülern wurden. 80 Prozent von ihnen waren hochbegabt und sind allein aufgrund ihrer sozialen Herkunft in der Förderschule gelandet. Das klingt jetzt vielleicht sehr technisch, aber das ist eine Missachtung und damit Verschwendung an Ressourcen, die sich unsere Gesellschaft nicht leisten kann.

VB Und es wird den Menschen in keiner Weise gerecht.

Sie, Frau Bentele, beraten inzwischen Unternehmen und Teams. Der Demeter-Verband ist ja ein sehr heterogenes Gebilde. Wie schafft man es, in so einer Gruppe nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner wirken zu lassen, sondern das Potential an Risikobereitschaft, Neugier, Mut und Entscheidungskraft für das Künftige zur Entfaltung zu bringen?

AG Zwei Dinge spielen beim Verband eine Rolle. Erstens: in der Gruppe erreicht man mehr, hat ein größeres Ideenpotential, Einzelmeinungen entwickeln sich zu einem besseren Ergebnis. Das versuchen wir aktiv zu nutzen, zum Beispiel bei Richtlinienbeschlüssen oder Fragen der Qualitätsentwicklung. Und zweitens die Kehrseite: in der Gruppe finden sich immer Interessensträger zusammen. Das heißt zum Beispiel bei uns: Der Naturkostfachhandel möchte die Marke Demeter exklusiv haben. Hersteller allerdings können manchmal nicht alle Demeter-Produkte in diesem Fachhandel absetzen, da wird der Wunsch nach anderen Vertriebskanälen laut.

Sich dem gemeinsamen Ziel verpflichten  

Wie würden Sie so eine Gruppe beraten, coachen, führen?

VB Zuallererst gilt es zu verstehen, dass Unterschiedlichkeit etwas sehr Wertvolles ist. In der Politik werde ich jeden Tag damit konfrontiert (lacht). Das kann anstrengend sein, aber ich sehe es meist positiv. Ein Verband, der für viele Produkte, viele Menschen, viele Regionen steht, braucht unterschiedliche Positionen. Also würde ich erst mal über die Wahrnehmung von Unterschieden sprechen. Was finden wir bedrohlich, was ist ungewohnt, warum weichen wir dem vielleicht auch aus, wie wirkt es auf mich, wie reagiere ich auf andere Positionen? Dann wird es natürlich irgendwann wichtig, sich dem gemeinsamen Ziel zu verpflichten. Gerade diesen Blick auf ein gemeinsames Ziel habe ich aus meiner Sportlerzeit und auch hier von der Arbeit auf dem Hof mitgenommen. Nur wenn das Ziel allen klar ist, wenn alle zu dem Ziel stehen, dann kommt man weit und ist motiviert, auch abends oder am Wochenende zu arbeiten, bei Ausflügen eben die Obstbäume von anderen Höfen anschauen – Vaters Lieblingsbeschäftigung – oder auch bei schlechtem Wetter auf die Trainingsrunde zu gehen.

AG Einer unser Slogans lautet ja: Vielfalt einer starken Gemeinschaft. Das Bindeglied ist die gemeinsame Idee. Wir hatten letztens ein Gespräch mit einem Hersteller, der eher aus der Not zu Demeter gekommen war, weil er an den Fachhandel liefern wollte. Erst im Laufe der Mitgliedschaft hat er sich dann unserem philosophischen Fundament genähert, sich aber an Steiner-Texten die Zähne ausgebissen. Er hat mir gesagt: Ich bin trotzdem überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war, zu Demeter zu gehen. Die Vielfalt, die Leidenschaft, das Sinnorientierte der vielen Charakterköpfe, die ich hier treffe, faszinieren mich. Hier erlebe ich bei allen Unterschieden die Fokussierung auf eine gemeinsame Idee, die in die Zukunft trägt.

PB Für mich war gerade das Konzept der obligatorischen Viehhaltung bei Demeter so beeindruckend. Aber meine Mutter hatte unsere Kühe, nachdem mein Vater gestorben war, zehn Jahre vor meinem Einstieg in den Betrieb, abgeschafft. Deshalb war es für mich erst einmal kaum vorstellbar bei Demeter überhaupt anzuklopfen. Als ich dann auf biodynamisch umgestellt habe – und als Spezialbetrieb mit Obstbau und Hopfenanbau geht das ja ohne Viehhaltung – haben wir für die Kinder dann Tiere angeschafft: sechs Pferde, fünf Ziegen …

Verena Bentele lacht: Mit denen sind wir spazieren gegangen.

PB… Stallhasen, den Vogel Fritzi, Bienen. Das war für mich ein Weg, das tierische Element auf den Hof zu holen, auch wenn es nicht wirklich landwirtschaftlich war. Jetzt haben wir mit dem Demeter-Nachbarhof eine Mist-Kooperation, das funktioniert gut.

Das Ziel aller Demeter-Arbeit ist ja einerseits die Entwicklung der Natur, der Landschaft, die Pflege der Erde – aber natürlich andererseits die Erzeugung bester Lebensmittel. Welche Bedeutung hatte die Ernährung für Sie als Hochleistungssportlerin, wie erleben Sie die Esskultur in politischen Gremien oder bei Veranstaltungen?

VB Ich muss beim Essen einfach flexibel sein, weil ich längst nicht immer Bio bekomme, wenn ich bei einem beruflichen Termin ans Buffet gehe. Bio ist da leider meist noch die Ausnahme. In unserer Kindheit hat unsere Mutter viel selber gemacht, Brot und Kuchen gebacken, das gehörte für mich einfach dazu. In der Sportlerzeit haben wir mitgenommen was ging, da war ich toll versorgt von daheim, denn auch beim Sport gab es damals kaum Wahlmöglichkeit. Weil ich mit einer solchen Qualität aufgewachsen bin, ist es für mich selbstverständlich, im Bioladen einzukaufen, selbst im Studium. Meine Brüder kochen besser als ich, ich bin eher die Spezialistin für Salat, das esse ich bis heute am liebsten nach langen Arbeitstagen. Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft wären übrigens mein zweitliebstes Lieblingsfeld in der Politik. Ich finde es erschreckend, wie wenig Wertschätzung wir gegenüber unseren Lebensmitteln und deren Erzeugern haben. Faire Preise für gute Lebensmittel sind mir wichtig, aber auch der tolle Geschmack von Bio-Lebensmitteln überzeugt jeden, der es probiert. Tomaten und Erdbeeren sind beispielsweise geeignet für den Geschmackstest. In meinen Augen ist ein wichtiger Aspekt im Hinblick auf Ernährung auch die Regionalität und, dass Produkte saisonal passen. Im Winter müssen es für mich am Buffet nicht die Erdbeeren sein.  

AG Ich war gerade im Justizministerium, das ja auch für Verbraucherschutz zuständig ist. Da habe ich mal wieder die Frage gestellt, ob nicht die Ministerien, generell die öffentliche Hand, vorangehen können in Sachen Qualität der Ernährung und für öffentliche Kantinen bei der Vergabe nicht länger mehr als einziges Kriterien den Preis anzusetzen. Mein Gefühl ist, der Handlungsbedarf wird immer noch nur in Einzelfällen erkannt. Gern verweise ich dann auf die erfolgreiche Initiative der Stadt Kopenhagen. Sie hat eine Firma ausgegründet, die für alle öffentlichen Kantinen der Stadt die Verpflegung organisiert. Angefangen haben sie mit 40 Prozent Bio-Anteil – inzwischen liegen sie bei 90 Prozent. Die Grundkomponenten der täglichen Essen werden zentral gekocht und die frischen Zutaten werden lokal vor Ort zubereitet. In der dazugehörigen Werbekampagne überzeugen dann die Köchinnen und Köche, die ganz stolz auf ihre Arbeit sind, die Menschen. So wird Bio gut transportiert und weil alles optimal organisiert ist, kostet das Essen nicht mehr als das, was zum Beispiel Berlin als Zuschuss für die Schulessen bezahlt.

VB Da sind wir in Deutschland doch sehr träge, oft fehlt noch ein Verständnis für diese Herausforderung.

Kontrolle führt ins Ziel

Vertrauen auf`s Siegerpodest

Bei Lebensmitteln spielt ja das Thema Vertrauen eine wichtige Rolle. Kann ich Bio und Demeter vertrauen fragen viele. Sie, Frau Bentele, sagen „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Kontrolle führt ins Ziel, Vertrauen führt aufs Siegertreppchen“. Was bedeutet eine solche Haltung für Demeter?

AG Diesen Spruch mache ich jetzt zu meinem Leitspruch (lacht). Wir bei Demeter stecken da ein bisschen im Dilemma. Die hohe Anerkennung und Wertschätzung für Demeter speist sich aus den strengsten Richtlinien, der konsequenten Kontrolle. Wir merken, dass dieses System an seine Grenzen kommt. Wenn wir immer noch mehr regeln, kann letztlich keiner mehr alles einhalten und kontrolliert werden kann das auch nicht mehr – wir generieren also eine Scheinsicherheit. Noch kritischer sehe ich jedoch, dass wir mit einer solchen Haltung den Ökolandbau auf eine Rezepte-Landwirtschaft reduzieren. Dann geht es nur noch ums abhaken der Richtlinien als Checkliste. Das ist uns als Demeter zu wenig. Wir fragen uns, wie schaffen wir es, zu einer Entwicklungsgemeinschaft zu werden, also wirklich jeden Tag noch etwas besser? Wie geht der Verbraucher diesen Weg mit? Konkret bedeutet es, Richtlinien zurückfahren auf das allernotwendigste. Eine Mindestabsicherung ist unbestritten wichtig. Wir wollen stärker zu dem gehen was wir schon hatten: zur Vertrauenslandwirtschaft. Da setzt sich der Betriebsleiter Ziele. Verbindlichkeit für die Zielverfolgung und -erreichung wird dann hergestellt über sogenannte Betriebsentwicklungsgespräche. Die haben wir auf allen Demeter-Höfen jedes Jahr einmal. Jetzt wollen wir sie auch in den Hersteller- und Handels-Betrieben einführen. Mich interessiert, wie es gelingen kann, nicht nur bilateral Vertrauen aufzubauen, sondern auch als Gemeinschaft von Menschen. Wenn sie ihrem Begleitläufer folgen, ist das ein ganz persönliches Vertrauens-Verhältnis.

VB Bleiben wir kurz bei der Landwirtschaft. Was ich immer richtig gut finde, ist die Gelegenheit für Verbraucher, direkt auf den Hof zu fahren, dort einzukaufen, alles mitzukriegen im Stall und auf dem Acker. Als ich mir in München meine erste Biokiste abonniert habe, habe ich mir angeschaut, wie dort gewirtschaftet wird, ich war beim Hoffest, habe mit den Menschen gesprochen. Diese Transparenz und persönliche Begegnung halte ich für ganz wichtig. Ein Siegel ist das eine und durchaus wichtig. Richtlinien und Verordnungen brauchen wir schon als verlässliche Basis, aber das persönliche Verhältnis und die Transparenz sind das wichtigste.

PB Wir verkaufen 98 Prozent unserer Äpfel über den Naturkostgroßhandel. Ich genieße die zwei Prozent Direktverkauf. Der unmittelbare Kontakt mit Verbrauchern, die prompte Rückmeldung sind wichtig und beflügeln. Menschen finden es gut, dass wir umständlicher schaffen und sie schmecken diese Wirkung bei jedem Apfel.

VB Man muss sich für Vertrauen ein Stück weit entscheiden – deshalb frage ich im Bioladen nicht bei jedem Produkt wo es herkommt. Wenn es mir schmeckt kaufe ich es wieder. Es kostet ja auch eine wahnsinnige Energie alles zu hinterfragen, die kann ich für anderes besser nutzen. www.verena-bentele.com

Seit 200 Jahren Familienbetrieb

Peter, seine Frau Monika und Sohn Johannes Bentele führen den Obst- und Hopfenhof Bentele inzwischen gemeinsam. In Wellmutsweiler, einer kleinen Ortschaft von Tettnang im Argental nicht weit vom Bodensee, kultivieren sie Plantagen mit Topaz, Jonagold, Idared, Boskoop. Neben den 15 Hektar Apfelplantagen gehören sieben Hektar Hopfenfelder zum Hof. Seit 1984 ist der Betrieb Demeter-zertifiziert. Über 200 Jahre schon wird diese Hofstelle in der Familie Bentele bewirtschaftet. „Es geht uns darum, unseren Kindern und Enkeln gesunde Grundlagen zum Leben und Arbeiten zu hinterlassen“, betont Peter Bentele.

Von den Paralympics in die Politik

Verena Bentele hat sich nach ihrer beeindruckenden Karriere bei Paralympics und Weltmeisterschaften im Skilanglauf und Biathlon und nach ihrem Germanistikstudium als Systemischer Coach selbstständig gemacht. Sie berät Unternehmen und Teams. Seit 2014 ist sie Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. 2011 war sie Weltbehindertensportlerin. Auf der langen Liste ihrer sportlichen Erfolge bei vier Paralympics stehen 12 Gold-, 2 Silber-, 2 Bronzemedaillen, bei drei Weltmeisterschaften 4 Gold-, 3 Silber-, 2 Bronzemedaillen sowie Siege im Biathlon- und Langlauf-Gesamtweltcup.  Man sollte alles ausprobieren.“ Nach diesem Motto lebt Verena Bentele. Von Geburt an blind, kann sie nur hell und dunkel erkennen. Stark gemacht hat die spätere Spitzensportlerin ihre Kindheit in einem Sechs-Häuser-Dorf am Bodensee. Auf dem elterlichen Demeter-Hof, zwischen Äpfel und Hopfen, konnte sie sich austoben, mit anpacken, Verantwortung übernehmen und selbständig werden. Hier wurden die Grundlagen dafür gelegt, Vertrauen in andere Menschen zu haben.

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Buch und Hör-CD „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“ Kailash Verlag Mit anschaulichen Beispielen aus ihrer Sportlerkarriere und einem Trainingsplan in vier Stufen zeigt Verena Bentele, wie wir aus ihren Erfahrungen und Erkenntnissen lernen und sie auf unser tägliches Leben übertragen können. Vertrauen ist reine Trainingssache, meint sie. Ein Blindipedia von A wie Anfassen bis Z wie Zielen informiert über die Wahrnehmungen und die besonderen Anschauungen im Alltag von Verena Bentele. www.verena-bentele.com