Der Kapitalismus fährt gegen die Wand und niemand erforscht den Bremsweg

Ulrike Herrmann, Wirtschaftsjournalistin bei der TAZ, und Alexander Gerber, Demeter-Vorstandssprecher, sitzen sich auf der roten Ledercouch in der Chefredaktion der genossenschaftlich organisierten Tageszeitung in Berlin gegenüber. In der Analyse sind sich beide einig: der Kapitalismus hat uns zwar große Errungenschaften gebracht, aber inzwischen fährt er gegen die Wand.

Moderation: Renée Herrnkind

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Ulrike Herrmann: Es gibt keinen Grund darüber zu jubeln, dass der Kapitalismus scheitern wird. Wir müssen uns klar machen, dass er ein sehr erfolgreiches Gesellschaftsmodell ist. Wir verdanken ihm die Gleichberechtigung der Frau, die Demokratie und auch die Bildungsexpansion. Er hat für weit mehr als nur materiellen Reichtum gesorgt. Vieles, was wir heute schätzen, ist Folge des Wohlstandes. Aber der Kapitalismus wird untergehen, weil er ein System ist, das Wachstum benötigt, und unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht möglich ist.

Alexander Gerber: Alle prägenden Gesellschaftssysteme der vergangenen 100 Jahre sind gescheitert, weil jeweils eines der drei Ideale der französischen Revolution alle Bereiche der Gesellschaft übertragen worden ist: Gleichheit im Faschismus, Brüderlichkeit im Kommunismus, Freiheit im Kapitalismus. Für uns als Teil der anthroposophischen Bewegung ist natürlich interessant, dass Rudolf Steiner schon vor rund 90 Jahren auf die richtige Zuordnung und die notwendige Balance dieser drei Ideale hingewiesen hat: Gleichheit für das Rechtsleben, Brüderlichkeit für das Wirtschaftsleben und Freiheit für das Geistesleben. Das könnte ein Wegweiser für den Bremsweg sein, den wir jetzt brauchen. Denn trotz aller Errungenschaften, dürfen wir die Schattenseite unseres Wohlstands auf der Südhalbkugel nicht vergessen. Das sehen wir in der Lebensmittelproduktion überdeutlich. Zum Beispiel am Soja, das hier an die Masttiere verfüttert wird. Es kommt aus Brasilien, wo für diese Exporte der Urwald abgeholzt wird. Damit die Wege kurz sind, entstehen in der Nähe der europäischen Häfen große Ställe, in denen viel zu viel Gülle anfällt, die dann per Schiff nach Mecklenburg-Vorpommern gekarrt wird. Die Tiere werden in riesigen Schlachthöfen von ausgebeuteten Saisonarbeitern zerlegt. Die Edelstücke werden hier vermarktet oder exportiert, die schlechteren Teile nach Afrika exportiert und machen da die lokalen Märkte kaputt. Mich interessiert Ihre Meinung dazu.

UH: Man muss unterscheiden, ob ein Systemfehler vorliegt oder eine politische Fehlentscheidung. Das wird in der Kapitalismus-Kritik oft durcheinander gebracht. Was Sie beschreiben, ist unerträglich und wäre politisch abzustellen. Es gibt keinen Zwang, im Rahmen des Kapitalismus die Landwirtschaft so schädlich zu organisieren. Aber wir haben ein Grundsatzproblem: Komplett „grünes“ Wachstum gibt es nicht. Es wird immer Umwelt zerstört, werden immer mehr Ressourcen verbraucht. Der Klimawandel zeigt ja, dass wir an unsere Grenzen kommen – genauso wie die Tatsache, dass wir 100 000 Chemikalien in die Welt gesetzt haben, von denen wir gar nicht wissen, wie sie miteinander interagieren. Eigentlich waren alle Prognosen über den Kapitalismus falsch, nur eine war richtig: der Bumerang-Effekt, der rebound effect. Wenn man die Effizienz steigert, also Energie pro Wareneinheit spart, werden am Ende mehr Güter produziert und letztlich mehr Energie verbraucht. Das System ist aus sich heraus nicht reformierbar.

Deshalb plädieren Sie für eine Kreislaufwirtschaft?

UH: Ja, ich finde den Ansatz einer Kreislaufwirtschaft sehr richtig, und sie würde auch funktionieren. Was fehlt, ist die Brücke. Wie kommen wir vom Kapitalismus zur Kreislaufwirtschaft? Das wird nicht untersucht. Der Kapitalismus fährt gegen die Wand, und niemand erforscht den Bremsweg.

AG: Genau, die eigentliche Frage ist für mich, wie kann die Transformation gelingen und wohin genau soll die Transformation führen? Es fällt enorm schwer, uns auf die Metaebene zu begeben und unsere kapitalistischen Denkmuster zu verlassen.

Wie gelingt Transformation zur Kreislaufwirtschaft?

UH: Und das fragt man dann mich, eine Wirtschaftsjournalistin, statt die Volkswirtschafts-Lehrstühle darauf anzusetzen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin sehr für biologische Landwirtschaft und alternatives Handeln. Politisch ist das wichtig, weil dadurch die richtigen Fragen gestellt werden. Aber makroökonomisch ist es noch nicht die Lösung. Alle Modelle der Kreislaufwirtschaft gehen davon aus, dass Arbeit und Einkommen reduziert werden. Aber dann fehlt Nachfrage, und sofort würde die Wirtschaft schrumpfen., Das gesamte System wäre nicht mehr zu stabilisieren und würde im Chaos enden. Deswegen kann man nicht sagen „wir machen einfach ganz viel Demeter und dann ist die Welt in Ordnung“, obwohl jeder einzelne Demeter-Hof als politischer Beitrag wichtig ist.

Wenn Sie jetzt sagen Forschung ist der erste Schritt - was glauben Sie, wieviel Zeit wir dafür haben?

UH: Sehr wenig, der Zeitdruck ist da.

Wenn wir Kreislauf denken, sind Werden und Vergehen ja geradezu charakteristisch für dieses System. Aber wirkt dieses Prinzip nicht auch im Kapitalismus, der sich gerade selbst zerstört? Ist das letztlich vielleicht sogar eine teuer bezahlte, heilsame Zerstörung?

UH: Der Wandel ist alternativlos – jetzt muss ich auch mal dieses Unwort verwenden (lacht). In einer endlichen Welt kann man nicht unendlich wachsen. Wenn man es nicht schafft, gezielt und gestaltet aus dem Wachstum auszusteigen, zerstört sich das System selbst. Natürlich weiß keiner, wie dieses chaotische Ende aussehen wird. Aber in meiner Phantasie stelle ich es mir vor wie den Niedergang des weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert. Da wussten die Leute auch noch, wozu ein Aquadukt gedient hatte, aber sie selbst konnten es nicht mehr warten und haben aus römischen Bauwerken wie Markthallen, Kirchen und technischen Anlagen Steinbrüche gemacht und daraus ihre einfachen Hütten erbaut. So ähnlich muss man sich wohl auch das Ende des Kapitalismus vorstellen: Die Menschen wissen noch genau, was ein Apple-Computer war, können ihn aber nicht mehr bedienen oder die Autobahnen nicht mehr benutzen, weil die Energieversorgung zusammen gebrochen ist. Es ist gigantisch, wieviel Energie unsere Wirtschaft verbraucht – sie ist ein gefräßiges Monstrum. Es ist nicht möglich, diesen Energieverbrauch einfach auf ein vernünftiges Niveau zurückführen, weil der Kapitalismus so nicht funktioniert. Er ist ein dynamisches System, das durch die Dynamik stabilisiert wird. Kapitalismus ist keine Badewanne, bei der man die Hälfte des Wassers ablassen kann. Es funktioniert nicht, das Einkommen zu senken und umzuverteilen. Denn dieses Einkommen ist nicht von selbst da. Es wird in einem dynamischen Prozess jedes Jahr wieder erwirtschaftet. Man kann es nicht pflücken wie eine Heidelbeere.

AG: Das ist ja der alles entscheidende Punkt und es interessiert mich, ob Sie das herausarbeiten können. Sie sagen, die Dynamik ist das, was den Kapitalismus stabilisiert.

UH: Wenn man nicht versteht, das der Kapitalismus ein dynamischer Prozess ist, hat man absolut gar nichts verstanden. Und wie will man ihn abschaffen, wenn man ihn nicht verstanden hat?

Kapitalismus - als dynamischen Prozess verstehen

AG: Aber die Dynamik entsteht ja dadurch, dass das System an dieser Stelle offen ist und sich nicht selbst beschränkt. Also wenn ich Energie einspare, kann ich Kosten einsparen, mehr produzieren, dadurch wieder mehr Energie verbrauchen und wenn das Bedürfnis nicht da ist für das, was ich produziere, dann schaffe ich das Bedürfnis. Könnte man nicht sagen, wir schaffen in sich selbst stabile Entitäten – vielleicht ist das dann Kreislaufwirtschaft? Den Zwang und diese Freiheit, jeden Skaleneffekt sofort in Wachstum umzusetzen, müsste man doch in den Griff kriegen.

UH: Es ist sehr schwer, das Wachstum abzustellen. Es reicht nicht, einfach nur an einer Schraube zu drehen. Das Grundeinkommen ist dafür ein gutes Beispiel. Viele meinen, wenn jeder eines hätte, bräuchte man kein Wachstum mehr. Doch das Wachstum würde dann erst richtig losgehen, weil deutlich mehr Menschen mehr konsumieren könnten. Die jetzigen Hartz-IV-Empfänger hätten mehr Geld – und wer arbeitet, könnte einen höheren Lohn verlangen, weil er den Firmenchefs damit drohen könnte, dass ihm das Grundeinkommen reicht. Ich bin oft erstaunt, wie sehr der Kapitalismus als dynamisches System unterschätzt wird. Er hat alles durchdrungen, nichts existiert außerhalb. Es ist ein großes Missverständnis zu denken, Kapitalismus wären nur ein paar Großkonzerne, die man ruhig abschaffen kann. Niemand weiß, wie wir die Ökonomie verändern und gleichzeitig all das retten können, was uns viel Wert ist: Demokratie, Bildung, Gleichberechtigung, Freizeit. Kapitalismus ist eine soziale Kulturleistung, nicht nur ein Wirtschaftssystem.

AG: Das hat mit dem Freiheitsgedanken zu tun. Man hat den Fehler gemacht, ihn unbegrenzt auf das Wirtschaftssystem zu übertragen.

UH: So wie sich die Neoliberlaen die Freiheit vorstellen, existiert sie nicht. Die „Marktwirtschaft“ gibt es nicht. Sie ist eine Theorie, oder auch Ideologie, wie ein fairer Preis zustande kommen soll. Zentrale Idee dabei ist der Wettbewerb. Aber in Deutschland machen weniger als ein Prozent der Firmen 66 Prozent des Umsatzes – wo soll da Wettbewerb sein?

AG: An dieser Stelle möchte ich noch ein Stück weiter gehen. Landwirtschaft ist eigentlich ein ökonomischer Sonderfall. Dafür sehe ich zwei Gründe: Boden als Basiskapital ist nicht vermehrbar, Arbeitsteilung nur sehr beschränkt umsetzbar.

UH: Das stimmt.

AG: Und selbst in der Schweiz, wo Lebensmittel und ihre Erzeugung eine ganz andere Wertschätzung und Preisstellung haben und viele Jahre ein strenger Außenhandelsschutz bestand, geht die Einkommensschere zwischen Bauern und anderen Berufen immer weiter auseinander, die Preise in der Urproduktion sinken relativ gesehen seit Jahren. Landwirtschaft kann mit der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mithalten. Vielleicht ist das ja aber eine erste Antwort für die Transformation: Ökologische Landwirtschaft nicht als Sonderfall, sondern als Modell für künftiges Wirtschaften betrachten.

UH: Kapitalismus ist der Einsatz von Technik, und auch die Landwirtschaft ist heute eine technisierte Agroindustrie - wenn man von Demeter-Höfen absieht. Alles wird dem Diktat der Effizienzsteigerung untergeordnet. Deshalb werden Schnäbel gekürzt und Schwänze kupiert. Trotzdem beschreiben Sie ein interessantes Phänomen, wenn Sie die Landwirtschaft als benachteiligt darstellen. Subventionen für die Landwirtschaft gab es in England bereits im 18. Jahrhundert, weil man schon damals erkannt hat, dass man die wetterbedingten Schwankungen bei den Preisen und Ernten ausgleichen muss.

Demeter-Pressesprecherin Renée Herrnkind moderiert das Interview

Heute gibt es eine stärker werdende Bewegung hin zu direkten Vereinbarungen zwischen Erzeuger und Konsument, die solidarische Landwirtschaft (Solawi), nicht zuletzt auf immer mehr Demeter-Betrieben. Ist dieses Modell übertragbar auf große Zusammenhänge?

UH: Als Vision und als politisches Statement ist die solidarische Landwirtschaft wichtig, aber eine Transformation gelingt damit nicht. Wie gesagt: Es fehlt eine Brücke, um vom Kapitalismus zur Kreislaufwirtschaft zu kommen.

AG: Die Idee kommt dem Markt, dessen Abwesenheit sie vorhin bedauert haben, sehr nahe. Wir haben auf der einen Seite viele Verbraucher und auf der anderen Seite viele Landwirte, beste Voraussetzungen für einen idealen Markt nach Lehrbuch. Die oligopolen Strukturen, die wir beim konventionellen Handel in Deutschland haben, werden durch die direkten Beziehungen von Verbrauchern und Landwirten ausgehebelt. Übrigens: Die Entwicklung hin zu Oligopolen oder gar Monopolen ist auch ein dem Kapitalismus innewohnendes Prinzip und steht dem Ideal des freien Marktes entgegen. In der Solawi gehen wir noch einen Schritt weiter, wir treten als Verbraucher nicht nur in direkte Handelsbeziehungen mit den Landwirten, sondern ich als Bürger ermögliche, das ein Landwirt für mich auf den mir zur Verfügung stehenden 2.500 Quadratmetern Land Lebensmittel erzeugt und er dafür von mir das bekommt, was er braucht um seinen Lebensunterhalt zu sichern und seinen Betrieb nachhaltig zu führen. Dieses Modell lässt sich nicht einfach auf die gesamte Lebensmittelwirtschaft übertragen, aber es macht auf die Kernfragen aufmerksam.

Modelle überzeugen, Politik reagiert auf Druck

UH: Viele Leute sind immer ganz enttäuscht, wenn ich versuche zu erklären, dass einzelne Genossenschaften oder Direktvermarktungsformen noch kein Systemumbau sind. Dennoch sind sie wichtige politische Signale. Der Erfolg von Demeter zeigt, dass sich viele Bürger ein anderes Modell wünschen. Die Bedeutung dieses politischen Signals ist nicht zu unterschätzen.

Welche wirtschaftlichen Ansätze verfolgt Demeter sonst noch – Biodynamiker nennen die Wertschöpfungskette ja gerne Wertschätzungskette.

AG: Das Besondere ist, dass sich bei Demeter Erzeuger, Verarbeiter, Händler und Konsumenten zusammenschließen und wir gemeinsam überlegen, was wir jeweils brauchen: Mengen, Qualitäten, Preise. Das Verrückte dabei ist, dass es uns dabei um individuelle Lösungen und Vielfalt geht, uns dabei aber gerade das Kartellrecht enge Grenzen setzt. Im Idealfall bekäme jeder das was er braucht – und macht auch nicht mehr als benötigt wird. Wir versuchen daran konkret zu arbeiten. Der Vertrieb von Demeter soll eingebettet werden in eine besondere Qualität der Zusammenarbeit, die an Kriterien gebunden wird. Gehen wir fair miteinander um, auch in Bezug auf Preisbildung? Finden wir ein gemeinsames inhaltliches Interesse, stellen wir Verbindlichkeit her? Wir versuchen Neues zu erproben. Wir sind zwar keine Forscher und Wissenschaftler, aber so was wie ein Praxislabor. Und wir merken wie ungeheuer schwierig das ist, weil wir ja Teil des Systems sind.

Frau Herrmann, Ihre Analyse ist ja ernüchternd. Wie geht es Ihnen damit, zumal Sie ja wissen, wie knapp die Zeit ist für Veränderungen?

UH: Ich habe beschlossen, den Prozess spannend zu finden.

AG: Sie haben ja plastisch beschrieben, wo es enden kann, ähnlich wie bei den alten Römern oder auch Griechen. Es gibt ja immer wieder Einschnitte, an denen Zivilisationen untergehen und daraus was Neues entsteht. Wir als Pioniere einer neuen Agrarkultur stehen vor der Aufgabe, unser Wissen weiterzugeben und weiterzuentwickeln, damit es Antworten auf die neuen Herausforderungen geben kann.

UH: Wir sind ja noch nicht mal die Hauptleidtragenden unseres Handelns. Wir sind immer noch privilegiert. Klimawandel, steigende Meeresspiegel – all das trifft uns letztlich nicht so hart wie Menschen in anderen Regionen der Welt.

Sie haben auf die politische Bedeutung andersartiger Modelle hingewiesen. Sehen Sie Ansätze für einen Wandel, die aus der Politik kommen?

UH: Die Politik reagiert, wenn der Druck aus der Bevölkerung groß wird – wie etwa nach dem GAU in Fukoshima. Die Mehrheit der Bürger muss in Umfragen signalisieren, dass es für sie wahlentscheidend ist, dass der Weg in eine Kreislaufwirtschaft erforscht wird. Noch gibt es diesen starken Druck nicht. Aber er kann jederzeit ausgelöst werden. Wodurch, wird man sehen.

Ulrike Herrmann

Ulrike Herrmann, Jahrgang 1964, ist seit 2000 Redakteurin der TAZ für wirtschaftspolitische und soziale Themen. Nach einer Lehre als Bankkauffrau und der Ausbdildung an der die Henri-Nannen-Schule studierte sie Wirtschaftsgeschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin.

Als Sachbuchautorin veröffentlichte Sie unter anderem: