Neue Impulse für Ökozüchtung und Naturkostfachhandel

Rund 350 Akteure aus Anbau, Handel, Politik und Forschung kamen für zwei intensive Tage in Bingenheim zusammen, um gemeinsam die verbindende Vision weiterzuentwickeln: einen eigenständigen Ökolandbaus auf der Grundlage ökologischer und biodynamischer Saatgutarbeit und Züchtung.

Unter hochsommerlichen Bedingungen und vor dicht gedrängten Reihen eröffnete Staatsministerin Priska Hinz die Züchtungs- und Sortentage: „Sowohl der konventionelle wie auch der ökologische Landbau sollen gentechnikfrei bleiben können. Hessen ist bereit, für Gentechnikfreiheit zu streiten. Dass das durchaus realistisch und sogar eine Erfolgsgeschichte ist, das zeigen Sie hier in Bingenheim seit Jahren eindrücklich.“ Durch den gelungenen Auftakt wurde auch die Notwendigkeit der zweitägigen Veranstaltung deutlich: Damit die Naturkostbranche über die zunehmenden Herausforderungen hinauswachsen kann, ist die Zusammenarbeit vieler Akteure aus allen Bereichen der Wertschöpfungskette gefragt. „Der gebotene Veranstaltungsrahmen soll zur stärkeren Vernetzung und zur Entwicklung neuer Strategien für einen eigenständigen Ökolandbau genutzt werden“, so Petra Boie, Geschäftsleitung der Bingenheimer Saatgut AG.

Als Grundlage für Gespräche über samenfeste Gemüsesorten aus biodynamischer und ökologischer Züchtung konnten auf den Versuchsflächen der Bingenheimer Saatgut AG und Kultursaat e.V. um die 200 Sorten und Zuchtlinien unter anderem von Porree, Buschbohnen und Zucchini begutachtet werden. Im Vordergrund standen dabei neben dem Vergleichsanbau möglicher Sortenkandidaten zur Sortimentsentwicklung auch der Anbau zur Echtheitsprüfung der Vermehrungspartien und die Erhaltungszucht bestehender Sorten. „Wir bemühen uns, Lösungsangebote zu entwickeln: Insgesamt laufen unter dem Dach von Kultursaat mehr als 260 Neuzüchtungsprojekte an praktisch allen im hiesigen Gemüsebau relevanten Arten. Und heute wollen wir mit unseren Partnern aus der Anbaupraxis und dem Handel noch intensiver in den Austausch kommen“, freut sich Michael Fleck, Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins Kultursaat. Den Marktplatz mit Infoständen, die zahlreichen Fachvorträge sowie die angebotenen Workshops nutzten viele der Besucher, um ihr Wissen nach eigenen Interessenschwerpunkten zu vertiefen.

Im internationalen Dialogforum wurde deutlich, wie praktikable Ansätze aussehen können: Großhändlern aus Italien, den Niederlanden, Luxemburg und Deutschland stellten inspirierende Projekte und Vermarktungsbeispiele aus den jeweiligen Ländern vor und diskutierten mit den anwesenden Besuchern bestehende Schwierigkeiten und Lösungsansätze für eine erfolgversprechende Kundenkommunikation. „Wir müssen die Konsumenten begeistern und entscheidungsfähig machen“, erklärt Sascha Damaschun, Geschäftsführer beim Demeter-Partner Bodan Großhandel für Naturkost GmbH. Auch außerhalb des Vortragsraums konnten branchenübergreifende Allianzen geschlossen werden: „Die direkten Gespräche mit den Züchtern über die vorhandenen Sorten und die aktuelle Züchtungsarbeiten machen Mut, dass die Zusammenarbeit weiter ausgebaut werden kann und bestärkt uns in unserem Weg“, freut sich Fabio Brescacin von EcorNaturataSì in Italien.

An vielen Stellen wurde das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu den neuen gentechnischen Verfahren diskutiert. Für diesen Moment steht fest, dass alle neuen gentechnischen Verfahren entsprechend des Vorsorgeprinzips als Gentechnik unter dem europäischen Gentechnikrecht reguliert werden müssen. „Wir begrüßen diese Entscheidung sehr, denn der Einzug von Gentechnik-Pflanzen auf den Feldern würde unsere ökologische Erzeugung von Saatgut und Lebensmitteln grundsätzlich bedrohen“, äußert sich Gebhard Rossmanith, Geschäftsleitung Bingenheimer Saatgut AG. Diese Einschätzung bestätigte auch Dr. Angelika Hilbeck in ihrem Vortrag, indem sie die Off-Target-Effekte darstellte, die die mutmaßliche Präzision der Techniken und die daraus abgeleitete Sicherheit klar widerlegen. Der Europäische Gerichtshof habe wissenschaftlich korrekt gehandelt, wir seien keinesfalls an dem Punkt sagen zu können, dass die neuen Techniken „sicher“ sind.

Bingenheimer Saatgut AG und Kultursaat e. V. luden alle Besucher dazu ein, einen Aufruf zur Umsetzung des Urteils an die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner zu unterschreiben, um ein Gegengewicht zu den seit letztem Donnerstag wieder lauter werdenden Stimmen der Gentechnik-Befürworter zu bilden. Der deutlich formulierte Wunsch, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen, um die Zukunft der gentechnikfreien Saatguterzeugung, Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung zu sichern und damit die Wahlfreiheit der Erzeuger*innen und Verbraucher*innen, kann hier eingesehen werden.

Die Bingenheimer Saatgut AG und ihr Netzwerkpartner Kultursaat e. V. stehen für die Ideale des Ökolandbaus im Bereich Züchtung und Saatgut. Der Verein Kultursaat betreibt Methodenforschung und Entwicklung neuer sowie Erhaltung bewährter samenfester Gemüsesorten. Die praktische Arbeit geschieht „on-farm“ – Hybridzüchtung ist explizit ausgeschlossen. Die Bingenheimer Saatgut AG organisiert die Saatgutvermehrung der Sorten unter Ökolandbau-Bedingungen und vertreibt die ökologischen Saaten, sodass die Sorten Erwerbs- und Hobbygärtnern zur Verfügung stehen.