Jochen Bockemühl gestorben

Am Himmelfahrtstag, den 21. Mai 2020 ist Jochen Bockemühl über die Schwelle gegangen. Seit 1956 war er am Forschungsinstitut der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum tätig und hat von 1971 bis 1996 auch als ihr Leiter die anthroposophisch-goetheanistische Naturwissenschaft nachhaltig geprägt.

Seine Untersuchungen der Blattmetamorphose und der Einzelblattentwicklung mit ihren gegenläufigen Formverwandlungen gehören zu den Klassikern der goetheschen Morphologie. Ebenso kreativ hat er sich mit dem Begriff der Vererbung, der Atmosphäre und dem Wesen von Landschaften und den Präparate- und Heilpflanzen beschäftigt. Beobachtungsresultate und Ideenbildungen waren für ihn Trittsteine, um die Beziehung zur Natur und zu sich selbst zu vertiefen. Die Selbsterfahrung im einzelnen Erkenntnisvorgang war für Jochen Bockemühl der entscheidende Schritt auf dem Weg von der Natur-  zur Geisterkenntnis. Zusammen mit Georg Maier hat er im anthroposophisch-naturwissenschaftlichen Studienjahr vielen Studierenden den Goetheanismus erschlossen. In Kursen für Pharmazeuten (durch Weleda-MitarbeiterInnen angeregt), für junge Landwirte (mit Georg Maier und Kari Järvinen) und für Mediziner (mit Friedrich Edelhäuser) hat er in Dornach die goetheanistische Methode für die Berufsfelder erschlossen und später oft zusammen mit seiner Frau Almut in Seminaren auf allen Kontinenten buchstäblich in die Welt getragen.

Mit seinem Amtsantritt 1971 wurde Jochen Bockemühl auch die Verantwortung für die biodynamische Landwirtschaft übertragen, die der Sektion als landwirtschaftliche Abteilung eingegliedert wurde. Für deren Leitung konnte er noch im gleichen Jahr Herbert Koepf engagieren. Koepf arbeitete in Teilzeit, weil er in Grossbritannien und den USA Lehrverpflichtungen und Forschungstätigkeiten nachging. Nicht zuletzt wegen der positiven Erfahrungen in der Sektion mit einem beratenden und unterstützenden Kollegium gründeten die beiden mit dem Vertreterkreis ein vergleichbares Gremium. Die ausgewogene Vertretung vieler Akteure in der biodynamischen Landwirtschaft und das merkuriale Geschick von Jochen Bockemühl führten rasch zu einer dynamischen Entwicklung der landwirtschaftlichen Tagung, die bis heute ein Großanlass mit Teilnehmern aus aller Welt geblieben ist. Nach Herbert Koepf konnte Bockemühl Manfred Klett für die landwirtschaftliche Abteilung gewinnen, der sie zunehmend eigenständig koordinierte. Unter Nikolai Fuchs wurde die Abteilung zur Sektion für Landwirtschaft, die bis heute in einer kollegialen Beziehung zur Naturwissenschaftlichen Sektion im „Glashaus“ arbeitet.

In seiner Arbeitsbiografie ist Jochen Bockemühl den Weg von der Wissenschaft über die Kunst zur Religion gegangen. Während seiner ersten Zeit im Glashaus war dort ein Fotograf für Dokumentationszwecke angestellt. Später fing Bockemühl an zu malen, was er nie als „Kunst“, sondern als Schulungsweg verstand. Eindrücke von Wanderungen, Exkursionen und vielen Reisen setzte er meist abends aus der Erinnerung in grossformatige, mit Pastellkreide gemalte Bilder um. Es müssen Hunderte gewesen sein. Das Malen erlaubte die Vertiefung in die Atmosphäre und das Wesen von Landschaften und gehörte – gemäß den Aussagen Rudolf Steiners über das Verhältnis von Erinnerung und Imagination – zur Praxis imaginativer Fähigkeiten.

In der dritten Phase wurde das Bewusstmachen der eigenen Denktätigkeit und Erlebnisfähigkeit an der Natur zum Zentrum seiner spirituellen Erkenntnis. Wege zum Erfassen der realen Verwandtschaft von Mensch und Welt, Mikro- und Makrokosmos wurden nicht theoretisch, sondern lebenspraktisch erarbeitet. Darin bestand die religiöse Vertiefung seines wissenschaftlichen Strebens.

Johannes Wirz, Naturwissenschaftliche Sektion